Was andere noch "entwickeln" wollen, ist bereits fertig...
Der Unterschied der Kampfprinzipien im WingTsun und dem Ip Man Wing Chun
– unter besonderer Berücksichtigung der Konzepte und Aussagen von Herrn Keith Kernspecht.
Ein kurze Einleitung
Im Hinblick auf das angekündigte „Anti-WT-Seminar“ habe ich hier einen Aufsatz verfasst, der die Unterschiede der 3 Kampfprinzipien nach dem Ip Man Wing Chun-System und den 4. Kampfprinzipien nach dem WingTsun-System, wie es sich derzeit nach der Interpretation von Herrn Kernspecht, Leiter der Europäischen WingTsun Organisation darstellt.
Aufgrund der mir vorliegenden Literatur erhebt dieser Aufsatz keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
In der Darstellung der unterschiedlichen Konzepte der Kampfprinzipien stellt sich die Frage ob WingTsun und Wing Chun nun dasselbe sind, da sich beide Systeme auf Großmeister Ip Man beziehen.
In der verfügbaren Literatur wird vor allem die „Wissenschaft“ im WingTsun betont.
Die von Herrn Kernspecht entwickelte Definition von WingTsun soll kurz dargestellt werden und soll Ausgangspunkt für den weiteren Aufsatz sein.
Denn an diesem Anspruch soll der Vergleich der Kampfprinzipien gemessen werden. Ausgehend von dem Anspruch der „Wissenschaft“ wird dann dargestellt, wie Herr Kernspecht selbst die „Kritik“ am System sieht, nämlich als Motor für die Weiterentwicklung des WingTsun. Anhand der jüngsten schriftlichen Äußerungen Herrn Kernspechts in seinen Interviews sind mir offensichtliche Widersprüche in seinem System aufgefallen, die helfen sollen, zu klären, warum der WingTsun-Weg und der Ip Man Wing Chun-Weg so unterschiedlich sind.
Die Formen im WingTsun und im Ip Man Wing Chun haben eine völlig andere Bedeutung für das Gesamtverständnis des Wing Chun-Systems als Selbstverteidigungssystem, daher wird im Aufsatz darauf eingegangen, bevor die Kampfprinzipien diskutiert werden.
Nach der Darstellung der ersten beiden Kampfprinzipien im WingTsun nach Herrn Kernspecht folgt eine kurze Diskussion der beiden Kategorien „Ritualkampf“ und „Überfall“, die seit einigen Jahren in der Literatur über WingTsun und Selbstverteidigung eine nicht unerhebliche Rolle spielen. Im Unterschied dazu werden danach die 3 Kampfprinzipien nach dem Ip Man Wing Chun-System beschrieben. Aufgrund dieser unterschiedlichen Auffassung über die Kampfprinzipien erfolgt dann meine persönliche Kritik an den Kategorien „Ritualkampf“ und „Überfall“ und den – nach Auffassung Herrn Kernspechts – daraus resultierenden Handlungsstrategien im „BlitzDefence“ und dem „ReakTsun“-Programm. Einher damit geht ein unterschiedliches Verständnis der Distanzen im WingTsun und dem Wing Chun, die hier nicht unerwähnt bleiben dürfen.
Als letztes wird das 3. WingTsun-Kampfprinzip erläutert, welches das Verständnis des WingTsun nicht unerheblich beeinflusst hat, seit das WingTsun in Europa verbreitet wurde. Es soll deutlich gemacht werden, dass das WingTsun durch dieses „dazwischen geschobene“ Kampfprinzip nicht mehr dem entspricht, was Ip Man selbst unterrichtete.
Wenn es also in diesem Text um das unterschiedliche Verständnis der Kampfprinzipien im Wing Chun geht, dann wird sich die Diskussion vornehmlich um den Vergleich der 4 Kampfprinzipien im Leung Ting Wing Tsun und den ursprünglichen 3 Kampfprinzipien im Ip Man Wing Chun-System drehen.
Zur kurzen Gegenüberstellung:
Die 4 Kampfprinzipien im WT Die 3 Kampfprinzipien im Wing Chun
Ist der Weg frei, stoße vorwärts! Erwarte, was kommt,
Wenn der Weg nicht frei ist, bleib kleben! Begleite, was geht,
Wenn die Kraft des Gegners größer ist, gib nach!
Zieht der Gegner sich zurück, folge! Wenn der Kontakt löst, stoße vorwärts!
Der Vergleich zwischen diesen beiden Ansätzen mag äußerlich nur wenig unterschiedlich sein. Man kann feststellen, dass in den WT-Prinzipien das Prinzip Nr. 3 in der Prinzipienliste des Ip Man Wing Chun fehlt. Alle anderen Prinzipien sind ähnlich formuliert und können als identisch angesehen werden, wenn man es möchte. Doch hinter den vier formulierten Prinzipien des WT und den dreien des Ip Man Wing Chun steht ein höchst unterschiedliches Verständnis und eine dementsprechend unterschiedliche Interpretation mit weitreichenden Konsequenzen für das Wing Chun in Anwendung.
Der Vergleich zwischen den WT-Prinzipien und den Prinzipien des Ip Man Wing Chun erscheint mir sinnvoll einerseits, weil das WT immer noch den größten Einfluss auf das allgemeine Wing Chun-Verständnis der Mehrheit aller Wing Chun-Praktizierenden hat und andererseits, weil Herr Kernspecht wie kaum ein anderer den Anspruch der „Wissenschaftlichkeit“ formuliert. An diesem Anspruch soll das Wing Chun also gemessen werden. Ich werde mich im Weiteren also wesentlich auf Äußerungen Herr Kernspechts in seinen Publikationen beziehen.[1]
WingTsun gleich Ip Man Wing Chun?
Das WingTsun geht zurück auf Leung Ting, von dem behauptet wurde, er sei der sog. „closed-door-student“ Ip Man´s gewesen. Vieles von dem Ruhm des Leung Ting Wing Tsun geht auf diese Behauptung zurück. Der sog. „closed-door-student“ Leung Ting hat nach eigener Aussage bei Ip Man 9 Monate Privattraining gemacht und bei ihm an der Holzpuppe angefangen. Die Ausführung der ersten beiden Formen im Leung Ting-System unterscheidet sich erheblich von der Form Ip Man´s, so dass wir an dieser Stelle davon ausgehen, dass Leung Ting das gesamte System bei Ip Man nicht gelernt hat.[2]
So konnte man auf der Homepage der EWTO über Leung Ting nachlesen, bevor Herr Kernspecht sich von Leung Ting distanziert hatte, dass er
„ … die fortgeschrittensten Theorien, Strategien und Techniken eher durch meine Gespräche mit dem verstorbenen GGM im Teehaus lernte als in den neun Monaten harten persönlichen Partner-Trainings mit GGM Yip Man.“[3]
Dazu heißt es in einem Artikel über Leung Ting und sein Training bei Ip Man:
„Natürlich drehte sich jede Unterhaltung um ihre gemeinsame Kampfkunst Wing Chun. Der junge Leung Ting erhielt eine Fülle von Informationen und hörte so manche Anekdote aus dem langen Leben seines Begleiters. Das Tischtuch wurde nicht selten zur Lehrtafel, auf der Großmeister Yip Man ihm Wing-Chun-Kampftheorien erklärte, die er, bevor er in den Ruhestand getreten war, streng für sich behalten hatte. Angeregt durch die Gegenwart seines jungen Zuhörers, wagte er sogar Prognosen und äußerte seine eigenen Zweifel, die er bezüglich überlieferter und nie hinterfragter Techniken insgeheim hegte.“[4]
Es soll also so gewesen sein, dass Ip Man am Ende seines Lebens nun neuere Einsichten hatte, die in sein Wing Chun eingeflossen sind, die er in all den Jahren zuvor nicht weiter gegeben hatte. Und der junge Leung Ting soll also derjenige gewesen sein, dem Ip Man nie zuvor geäußerte Theorien mitteilte. Und der „closed–door-student“ lernt in 9 Monaten bei zwei Stunden wöchentlichen Trainings plus die Gespräche im Teehaus die fortgeschrittensten Konzepte und Techniken in Wing Chun!
Also kann man die komplexe Wing Chun-Theorie in einigen wenigen Monaten lernen, einmal abgesehen von der Trainingszeit, die es braucht, die Techniken einzuüben und zu verinnerlichen. Wenn das Leung Ting WingTsun nun das allerhöchste Wissen Ip Man´s beinhaltet, das er seinem „closed door – student“ weiter gegeben hat, dann ist es doch ein naheliegender Schluss , dass die fortgeschrittenen Theorien, Strategien und Techniken in die Formen und Anwendungen eingeflossen sind.
Wenn dem so wäre, dann sollte sichergestellt sein, dass der WT-Stilist nach Leung Ting und dessen Schüler eine höher entwickelte Kampffähigkeit hätten, als die Vertreter der anderen Stile. Oder die Schüler schneller an ihr Ziel kommen müssten aufgrund der weiter entwickelten Methodik: Wing Tsun praktisch anwenden zu können
Herr Kernspecht, neben Leung Ting bedeutendster Vertreter des WT weltweit, verweist in seinen Publikationen immer wieder auf den wissenschaftlichen Anspruch seiner Publikationen und das von ihm weiterentwickelte Leung Ting Wing Tsun. Herr Kernspecht hat wie kein anderer seit mittlerweile fast 40 Jahren die Denkweise über Wing Chun und dessen Konzepte geprägt, aber die Abkehr von dem ursprünglichen Wing Chun Ip Man´s hatte bereits in den 80er Jahren begonnen.
Dazu Herr Kernspecht:
„Unsere Partnerformen sind eine großartige Schöpfung meines Lehrers. Die gab es vorher nicht. Sprechen wir also vom Leung-Ting-WingTsun-Stil, dann ist das traditionell, aber nicht klassisch. Das gibt es ja erst seit den 1970er Jahren. Die meisten dieser fortgeschrittenen Formen wurden bei mir zuhause entwickelt. Da war ich dabei. Da war ich der Partner, d.h. aufgrund von meinen Reaktionen sind sie entwickelt worden.“[5]
WingTsun wurde von der EWTO – in Abkehr vom „klassischen Wing Chun“ – als „reformiertes Wing Tsun“ propagiert, und dieses hat sich seitdem weit von der ursprünglichen Einfachheit des Wing Chun Ip Man´s entfernt. Im Laufe der Entwicklung wurde das Wing Tsun um viele Aspekte und neue Programme erweitert, die in das Graduierungssystem eingeflossen sind. Zu nennen sind die sog. Chi Sao-Sektionen (26 Partnerprogramme, wie sie heute genannt werden), das „BlitzDefence“-Programm, die Kategorie des „Ritualkampfes“, die er in die Selbstverteidigung eingeführt; neuere seiner Erkenntnisse sind „ReakTsun“ und die „Großen Sieben“ und etliche weitergehende psychologische Komponenten von Stressbewältigung, Gewaltprävention etc…
Es ist also kaum haltbar, das WingTsun-System auf Ip Man zurück zu führen und Herr Kernspecht tut es mittlerweile auch nicht mehr. WingTsun hat mit dem Wing Chun Ip Man´s höchstens noch die Gemeinsamkeit der 6 Formen, aber inhaltlich hat das WingTsun durch Herrn Kernspecht eine völlig andere Bedeutung bekommen.
Die Wissenschaftlichkeit und das Ziel von Wing Chun
Wing Chun wurde über lange Jahre hinweg als das effektivste, praktischste, schnellste Selbstverteidigungssystem der Welt dargestellt. Wenn wir uns über Sinn und Zweck von Wing Chun unterhalten, dann sollte die Definition von Wing Chun dementsprechend ausfallen.
Nach Herrn Kernspecht kommt es „immer darauf an, wie man Wing Tsun definiert.“[6] Herr Kernspecht sagt in einem Interview, dass er mit dem WingTsun ja „praktisch zweigleisig“ läuft.
„Es gibt da ein ganz wissenschaftliches WingTsun: praktisch WingTsun als Mittel zur Selbstverteidigung. Das andere ist WingTsun für WingTsun. Das machen wir weiter. Das sind all die Formen des klassischen WingTsun. Außerdem gibt es die Partnerformen. Die Partnerformen sind nicht das klassische WingTsun von Großmeister Yip Man.“[7]
Das „wissenschaftliche Ziel im WingTsun lautet also:
„Es gibt da ein ganz wissenschaftliches WingTsun: praktisch WingTsun als Mittel zur Selbstverteidigung.“
Als Definition für die wissenschaftliche Diskussion ist dies eine einfache und rationale Definition für das Wing Chun. Innerhalb des Wing Chun gibt es aber wenig Einigkeit darüber, wie das Ziel zu erreichen ist, dass Wing Chun „als Mittel der Selbstverteidigung“ zu benutzen ist und wie das dem jeweiligen „System“ zugrunde liegende „Konzept“ aufgebaut ist.
Aus der eigenen Erfahrung mit dem WingTsun in den 90er Jahren und den unterschiedlichen Ansätzen im Ip Man Wing Chun (nach Klaus Filbrandt, Samuel Kwok, Trevor Jefferson u.a.) kann ich schon jetzt vorwegnehmen, dass es erhebliche Unterschiede in dem Aufbau des Wing Chun-Systems gibt und der vorhandenen inhaltlichen Konzepte im WingTsun und Wing Chun nach Ip Man. Um einige diese Unterschiede zwischen dem WingTsun und dem Ip Man Wing Chun – wie ich es bisher verstanden habe – soll es im Weiteren gehen.
Wenn beide „Systeme“ den Anspruch der Wissenschaftlichkeit erfüllen wollen, dann sollten der „WT-Weg“ und der „Ip Man“-Weg sich in der Frage der Effektivität und der Effizienz des Systems irgendwann annähern, wenn denn in beiden Systemen dieselben Prinzipien zur Anwendung kommen. Andernfalls kann man daraus schließen, dass die unterschiedlichen Auffassungen über die Prinzipien zu höchst unterschiedlichen Ergebnissen führen.
Leung Ting glaubt, „dass das richtige Konzept sich von selbst offenbart“ wie der richtige Ring bei Nathan dem Weisen: „durch seine Wirkung“ nämlich!“[8] Leung Ting hat Recht.
Samuel Kwok sagte immer in diesem Zusammenhang:
„Wing Chun is easy: When it works, take it, when it doesn´t work, leave it!” (Wing Chun ist einfach: When etwas funktioniert, übernehme es, wenn etwas nicht funktioniert, lass es bleiben!” (Übersetzung vom Autor).
Die Wirkung eines Konzeptes kann im Wing Chun also nur praktisch im Training überprüft werden, eben durch seine Wirkung. In der kritischen Untersuchung des Wing Chun-Systems müssen also die Grundannahmen der unterschiedlichen Ansätze überprüft werden und es muss dann nachvollziehbar sein, welche Folgen es für Wing Chun in der Praxis hat: ob es als praktisches Mittel der Selbstverteidigung effektiv anwendbar ist und welcher methodische Weg einfacher und schneller zum Ziel führt.
Folglich ist es eine empirische Methode, in dem die unterschiedlichen Methoden und Vorgehensweisen in konkreten Situationen von den Schülern getestet werden[9]. Ebenfalls sollten die Ergebnisse in gleichen Situationen unter gleichbleibenden äußeren Bedingungen von jedem Schüler wiederholt werden können.
Ein anderes Vorgehen wäre die Arbeit mit einer Kontrollgruppe: man hat zwei Unterrichtsgruppen, die jeweils nach der einen oder anderen Methode unterrichtet werden. Die ließe man gegeneinander antreten oder man ließe die Schüler der beiden Gruppen die jeweilige Selbstverteidigungssituation durchspielen und dann untersuchen, welche der beiden Gruppen die jeweilige Situation am besten gelöst hat. Durch das Abschneiden der Gruppen könnte man eine Aussage darüber treffen, welche Methode das definierte Ziel schneller und besser erreicht. Diese Vorgehensweise ist leider sehr zeitaufwändig und es müsste gewährleistet werden, dass die jeweiligen Schüler über eine längere Zeit hinweg regelmäßig zum Training erscheinen, um die Programme zu erlernen und anwenden zu können. Dieser Weg wäre für den „wissenschaftlichen Vergleich“ bestimmt sehr aussagekräftig, aber in der Praxis leider nicht durchführbar.
Es gibt unterschiedliche Aussagen darüber, welche Rolle die Kampfprinzipien in den einzelnen Wing Chun -Systemen überhaupt haben. Dies führt auch dazu, dass in den einzelnen Schulen unterschiedliche Trainingsmethoden praktiziert werden, z.B. „weiches Chi Sao“, „hartes Chi Sao“ etc….
Es ist also an der Zeit, über die Grundannahmen des Wing Chun-Systems zu diskutieren. Und ein besonderer Teil dieser Grundannahmen sind die Kampfprinzipien, da sie fundamental sind für das Wing Chun.
Es soll ebenfalls die Auffassung Herrn Kernspechts über die Formen im WingTsun dargestellt werden, da es einen Zusammenhang zwischen den Formen und den Kampfprinzipien gibt, der in der „WT-Logik“[10] Herrn Kernspechts nicht vorkommt. Diese unterschiedliche Bedeutung der Formen spielt eine zentrale Rolle für den Lernfortschritt und für das Erreichen des zuvor definierten „wissenschaftlichen Zieles“ im Wing Chun.
Die Diskussion steht gerade erst am Anfang, es ist also nicht verwunderlich, dass bestimmte Dinge noch nicht weiter erörtert werden können. Ich hoffe, es werden in dieser Seminarreihe viele interessante Aspekte der Wing Chun-Theorie zu Tage gefördert. Und in diesem Text geht es – als Vorbereitung für das zuvor angekündigte „Anti-WT-Seminar“ darum, eine Erklärung dafür zu liefern, warum die im WingTsun-System propagierten „4 Kampfprinzipien“ – und deren Auslegung durch Herrn Kernspecht als der Wegbereiter des WingTsun in Europa – in der Praxis nicht funktionieren.
Diese Erklärung kann man nicht „systemimmanent“ – also auf den Grundlagen des WingTsun-Systems – liefern, sondern höchstens im Vergleich verschiedener Konzepte, die die „Kampfprinzipien“ anders interpretieren und umsetzen. Für diesen Vergleich eignet sich das Konzept der „3 Kampfprinzipien“, wie ich es in dem „Familienstil Ip Man´s durch meinen ehemaligen Sifu Samuel Kwok und meinen derzeitigen Sifu Trevor Jefferson kennen gelernt habe. Durch meine eigene WT-Praxis in den 90er Jahren und meinen anschließenden Ausbildungen bildet meine eigene Erfahrung mit den unterschiedlichen Konzepten die Grundlage für diesen Text und für das angekündigte „Anti-WT-Seminar“.
Herr Kernspecht und „Kritik“
Aber da es um „Wissenschaft“ geht, kann niemand etwas gegen eine wissenschaftliche Auseinandersetzung haben. Herr Kernspecht gibt selbst die Steilvorlage für die Kritik an seinem System. Er selbst hat nichts dagegen, „Heilige Kühe zu schlachten“.
Er betont das in der Verteidigungsrede für seine Dissertation an der Universität in Sofia am 27.6.2009[11], und das haben sie auch bereits in ihrem Buch vom Zweikampf im Jahre 1987 auch schon geschrieben:
„Unter allen asiatischen Selbstverteidigungskünsten ist das WT traditionsgemäß als die rationalste, und revolutionärste Richtung bekannt. So zeichnet sich die Leung Ting-Schule durch besonders ketzerische Kritik, aber auch konstruktive Selbstkritik aus. Wir schrecken nicht davor zurück, (auch eigene) heilige Kühe zu schlachten, sondern wir stellen scheinbar gesicherte Erkenntnisse immer wieder infrage, so dass WT ein lebendiges, sich ständig erneuerndes und an der Realität orientiertes System bleibt.“[12]
Und in seinem Standardwerk „Vom Zweikampf schreibt er weiter:
„Zwar möchte ich mir einbilden, dieses Buch streng objektiv geschrieben zu haben, aber wie kann ich meinen WT-Augen verbieten, Sachverhalte mit WT-Logik zu betrachten?
Nehmen Sie es mir deshalb nicht übel, wenn ich manche Aspekte des von ihnen praktizierten und möglicherweise geliebten Stiles nicht so einschätzen wie sie. Nehmen Sie es bitte vor allem nicht persönlich, wenn ich kritisiere weder sie noch die persönlichen Fähigkeiten ihres Lehrers. Keinesfalls will ich Ihnen Ihren Kampfsport miesmachen. Sollte mein lückenhafter Beitrag auch nur einen einzigen Punktanstoß zu einer fruchtbaren Diskussion in ihrem Kampfkunst kreist sein, so wäre mein Ziel erreicht, ich bin realistisch genug, zu wünschen, dass das Ziel sich optimal entwickeln soll. Unser Motto sei: das Bessere ist des Guten Feind!“[13]
Innerhalb der „WT-Logik“ scheint es vielleicht eine konsequente Weiterentwicklung gegeben zu haben, aber außerhalb dieser „WT-Logik“ kann es nun auch andere Wege geben, die bisher nicht beachtet, nicht formuliert, nicht diskutiert oder aufgrund der erfolgreichen Entwicklung einfach beiseitegeschoben wurden.
Herr Kernspecht ist gerne bereit zuzugeben, dass die unterschiedliche Wing Chun-Richtungen auch unterschiedliche Konzepte für ihr System zugrunde legen, doch behauptet er indirekt, dass die anderen nicht genau wissen, was Sie tun. Er schrieb auf seiner Homepage in dem Artikel „Der verstorbene Großmeister Yip Man“ in einer Anmerkung zu dem Sachverhalt, dass Yip Man besser geworden war als seine Sihings, die auch bei Chan Wah Shun gelernt hatten und diese neidisch auf Ip Man geworden waren:
(…)Hier gilt als Parallele anzumerken, dass z.B. fast alle bekannten Veröffentlichungen über Yip Mans Kampfkunst zwar das Einhalten der „Zentrallinie“ als das Wichtigste bezeichnen, aber offenbar niemand außerhalb der Leung Ting-Schule diese richtig definieren kann.“
Dennoch bleibt Herr Kernspecht die Definition in seinem gesamten Standardwerk „Vom Zweikampf“ schuldig. Auf Seite 110 – in der Ausgabe von 1998 behandelt er zwar die „vertikale Mittellinie und die verletzlichen Stellen am menschlichen Körper“, jedoch wird im Weiteren die Zentrallinie nicht definiert. Sie wird lediglich im Buch ein paar Mal erwähnt, aber nicht weiter beschrieben, geschweige denn definiert.[14]
In allen WT-Büchern und den im Internet verbreiteten Videos offensichtlich, dass sich nicht viel an der Ausführung der WT-Formen verändert hat, sodass der Ansatz für die kritische Betrachtung immer noch derselbe ist. Und wenn es um die Prinzipien des Wing Chun-Systems geht, kann man sich gut auf die neuesten Äußerungen Herr Kernspechts in der – von ihm heraus gebrachten – WingTsun-Welt beziehen, in der er sich in Interviews und Artikeln über den „Status Quo“ der neuesten Entwicklungen und Erkenntnisse über das WingTsun-System äußert.
Über die Methode
Es scheint so zu sein, dass die Entwicklung des WingTsun in den letzten Jahren immer weiter dazu geführt hat, die Psychologie in den Vordergrund zu rücken. Noch einige Jahre früher schien das WT auch auf dem Weg zur Einfachheit zu sein und machte genau diese fehlende Einfachheit anderen Kampfkünsten zum Vorwurf.
Im Buch „Vom Zweikampf“ rechnete Herr Kernspecht dem Leser noch vor, wie einfach WingTsun zu erlernen ist. Auf Seite 29 in dem Standardwerk[15] fasst er – wiederum im Interview die 4 Zeiten zusammen, die in der Selbstverteidigung wichtig sind:
„1. die Zeit, die man braucht, um die Methode hinreichend zu erlernen.
2. die Reaktionszeit, die durch die mehr oder weniger intelligente Struktur der Methode vorgegeben ist
3. die Bewegungszeit, die davon abhängig ist, ob die Methode lange oder kurze Wege aufweist (Ökonomie der Bewegung)
4. die persönliche, individuelle Schnelligkeit, die nur begrenzt trainierbar ist.“
Dazu macht er noch zwei sehr treffende Feststellungen:
„Die Methode ist die beste, die sich in der kürzesten Zeit erlernen läßt!“
und
„Vergessen sie alle Methoden, die mehr als 12 Bewegungen nötig haben!“
Weiter erläutert er:[16]
„Je mehr Techniken Sie zur Auswahl haben, desto größer wird die Verwirrung im Ernstfall sein. Denn Sie müssen sich in Sekundenbruchteilen für eine Lösung entscheiden. Jede Entscheidung kostet aber Zeit. Wertvolle Zeit. Je weniger Entscheidungen sie im Kampf fällen müssen, desto besser. Desto schneller können Sie reagieren. Deshalb gilt in der der praktischen Selbstverteidigung das Motto: Weniger ist mehr! Die Selbstverteidigungsmethode ist die beste, die mit den wenigsten Bewegungen den meisten Angriffssituationen begegnen kann.“
Seiner Erfahrung nach „lässt sich eine Bewegung nach etwa 10 Stunden Training ausreichend beherrschen“[17].
Ausgehend von einem durchschnittlichen Trainingsaufwand für „realistische Selbstverteidigungs-vorbereitung“[18], merkt Herr Kernspecht dazu an, dass
„wir davon ausgehen müssen, dass 1 Technik in Wirklichkeit als zwei Bewegungen (links und rechts) geübt wird. Wenn unser Stil also 80 Techniken zählt, hat er 160 zu lernende Bewegungen. Also, ich schreibe Ihnen mal auf, T heißt Techniken, B meint Bewegungen.
2 T = 4 B = 1 Jahr
4T = 8 B = 2 Jahre
40 T = 80 B = 20 Jahre
400 T = 800 B = 200 Jahre
Aufgrund der Lernzeit, die für eine bestimmte Anzahl von Bewegungen in einer Selbst-verteidigungsmethode aufgewendet werden muss, kommt er für die Selbstverteidigung zu der logischen Schlussfolgerung:
„Für die Selbstverteidigung ist die einzige Lösung ein System, das auf nur wenige Techniken aufbaut und auf Unnötiges von vornherein verzichtet!“[19]
Sehr richtig analysiert. Aber zu der Zeit, in der diese Definition geschrieben wurde, existierte in dem Vokabular die Unterscheidung nicht zwischen „Ritualkampf“ und „Überfall“. Diese spätere Unterscheidung verschiedener Kategorien führte zu der Entwicklung neuer Programme wie „BlitzDefence“ und dem „ReakTsun“, die jeweils in der einen oder anderen Selbstverteidigungs-situation zu einem speziellen Verhalten des Verteidigers führen sollen.
Also, was sagt Herr Kernspecht heute über sein WingTsun?
Dazu müssen wir hier an dieser Stelle ein wenig weiter ausholen.
Herr Kernspecht über sein eigenes WingTsun und offensichtliche Widersprüche
Über Partnerprogramme (Chi Sao)
Nach der weiter oben behandelten Feststellung, dass WingTsun nicht mehr dem Wing Chun Ip Man´s entspricht, trifft Herr Kernspecht in seinem Interview eine bemerkenswerte Aussage, die seinem formulierten „wissenschaftlichen Anspruch“ – praktisches WingTsun als Mittel zur Selbstverteidigung offenbar widerspricht:
„Das ist dieser klassische und traditionelle Bereich. Es gibt viele Leute, die mögen den wegen der Philosophie dahinter unheimlich gerne – weil es Tradition hat oder weil es für sie ein historischer Aspekt ist. Oder aber auch, weil sie etwas schwarz auf weiß nach Hause tragen wollen. Für sie ist es absolut wichtig, damit sie sich wohl fühlen. Aber dann gibt es andere, die sagen: „Ich will mich verteidigen können.“ Die können sicherlich auf viele Sachen aus den traditionellen Programmen verzichten. Für sie ist manches vielleicht Ballast.“[20]
Warum wird also Ballast unterrichtet, wenn es doch nun keinen „wissenschaftlichen“ Grund dafür gibt: als praktisches Mittel zur Selbstverteidigung? Dieser „Ballast“ ist die Struktur des eigenen Unterrichts- und Graduierungssystems, in dem die damaligen „Chi Sao-Sektionen“ bis in die höheren Techniker-Grade Teil des Programms waren. Die jetzt so genannten „Partnerübungen“, sind die Übungsmethoden, die ja immer noch im Graduierungssystem der EWTO (siehe http://www.wingtsun.de/graduierung/wingtsun-graduierung.html) fester Bestandteil sind.
Dazu Herr Kernspecht:[21]
„Es gibt spezielle traditionelle ChiSao-Übungen, wo Partner genau choreographisch festgelegte Bewegungen abspulen – detailliert festgelegt. Wie ein Drehbuch – und das sind sicherlich Übungen, mit denen ein Tastsinn hergestellt werden kann. Wenn man das übt, erwirbt man sicherlich einen Tastsinn. Nur diesen Tastsinn meine ich nicht. Ich will den Tastsinn haben, der für mich Entscheidungen fällt. Ich brauche einen Tastsinn, der mir genau sagt, was ich jetzt tun soll.“
Warum wird dann in einem Unterrichtssystem immer noch vom Schüler verlangt, 26 Partnerformen zu lernen, wenn Sie einen Tastsinn vermitteln, der gar nicht gewollt ist?[22] Der Ballast, den WT-ler mit sich herumtragen, sind durch die „Partnerprogramme“ vermittelten Reaktionsweisen, die sich jedoch von denen unterscheiden, die im Ernstfall gefordert werden, um die richtige Entscheidung zu treffen. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass es eine gewisse Zeit dauert, sich die Reaktionen, wieder abzutrainieren, die man sich in diesen „Sektionen“ angeeignet hat.
Über das „traditionelle Programm“
Es scheint also so zu sein, dass man im WingTsun, trotz eines „wissenschaftlichen“ Interesses an praktischer Selbstverteidigung, einen Umweg zu gehen, der gar nicht zielführend ist. Die Kunst um der Kunst willen wird neben der „Wissenschaft“ beibehalten, auch wenn dabei in Kauf genommen wird, dass nicht alle das Ziel erreichen und der Lernweg auch dementsprechend lang ist. Auf die Frage, ob der frühere Aufbau der Programme den Schüler zu einem Ziel führte, vielleicht auch auf Umwegen, lautete die Antwort:
„Das ist ja die Frage nach dem traditionellen Programm. Das traditionelle Programm führt nach vielen Jahren Training manche zum Ziel. (schaut in die Runde) Wobei das Ziel nicht genau definiert ist. Die Mühe hat man sich nicht gemacht im traditionellen WingTsun – das gilt übrigens für alle traditionellen Kampfkünste, die ich so kenne – da wird diese traditionelle Kampfkunst gemacht, um diese traditionelle Kampfkunst zu machen. Nicht, dass der Schüler sich am Schluss verteidigen kann. Da geht es um WingTsun für WingTsun. Kunst für die Kunst. Das ist auch etwas Tolles. Ich kann also WingTsun für WingTsun machen. So wird es in den traditionellen Schulen gemacht. Oder ich kann WingTsun machen, damit ich mich besser verteidigen kann. Das sind zwei verschiedene Paar Schuhe“[23]
Bei der Feststellung der Unzulänglichkeit des traditionellen WT-Programms bleibt er nicht stehen, sondern nennt sogar die Ursache dafür, dass das Training der eigenen Formen dem Schüler tatsächlich nicht so viel bringt, wie es sein sollte:
„Beim traditionellen WingTsun geht es darum, dass wir die Angriffe, die Abwehren, die Schritttechniken haben und das wollen wir einmal alles schön üben. Weiter haben wir diese Form und jene Form und unsere Altvorderen glaubten, die Form entwickelt dies und das. Das überprüfen wir leider gar nicht, sondern machen es einfach so, wie sie es machten. Wird schon irgendetwas am Schluss bringen. Also: die traditionellen Programme sind nicht so zielstrebig. Das ist der Unterschied beim traditionellen Arbeiten.“[24]
Es wird also immer noch entgegen dem eigenen Anspruch, „wissenschaftliches Wing Tsun“ für die Selbstverteidigung zu praktizieren, ein Programm von Partnerübungen unterrichtet, die nicht nur den erwünschten Tastsinn vermitteln, sondern darüber hinaus die Schüler auf einen Weg bringen, auf dem „das Ziel nicht genau definiert ist!“
Aus Sicht des Ip Man Wing Chun-Systems kann ich diese Aussage als indirektes Eingeständnis eines lückenhaften und oberflächlichen Verständnisses der Theorie des Systems verstehen. Denn dieser Weg ist eine Form von Zeitverschwendung!
Herr Kernspecht führt dies allerdings nicht auf das eigene WingTsun-System zurück, sondern auf die traditionelle chinesische Unterrichtsweise, in der wohl einfach nicht nachgedacht wurde. Auf die Frage im Interview:
„Kann man also sagen, dass wir WingTsun heute sehr viel komprimierter lernen, als es vor 20 und offenbar vor 200 Jahren auch der Fall war?“
lautet die Antwort:
„Genau. Sie hatten früher ihre Formen und an denen hielten sie fest. Und da wurde auch genau gesagt, welche Form für welche Graduierung ist. Man misst sich dann an der Graduierung, die man bekommt. Und die Graduierung misst sich an der Form, die man gerade gelernt hat. Aber da fehlt immer der Gegner. Das ist das, was Bruce Lee „Trockenschwimmen“ nannte. Da stellt man sich die Frage, kann man nach so und so vielen Jahren des Trockenschwimmens plötzlich schwimmen, wenn man ins Wasser geworfen wird?“[ebd.]
Hier wird also festgestellt, dass man heute sehr viel schneller und komprimierter WingTsun erlernen kann als es noch vor 20 oder 200 Jahren der Fall war. Aber was bedeutet, schneller und komprimierter?
Wir stellen in den Aussagen Herrn Kernspechts fest, dass in den vergangenen Jahren so mancher mit dem traditionellen Programm eventuell zum Ziel kommt, wenn überhaupt, auch wenn das Ziel nicht klar definiert war.
Man kann also mit gutem Recht annehmen, dass der Grund für die lange Lernzeit in dem „traditionellen Programm“ darin zu suchen ist, dass man eigentlich nicht genau wusste, wohin die Reise eigentlich gehen sollte. Nach der Weiterentwicklung des WingTsun durch neuere wissenschaftliche Erkenntnisse des „Ritualkampfes“ und dem ReakTsun, dauert es heutzutage etwa 5 bis 10 Jahre, vielleicht auch länger, bis man in der Lage ist, auf einen Überfall angemessen zu reagieren. Dazu wieder Herr Kernspecht:
„Und die andere Seite der Medaille ist: „Nimm auf, was kommt…“ Das ist die Seite, für die man dann das ReakTsun braucht, wo man reagieren, Tastsinn haben, auch Intuition haben muss. Ein Programm, für das man bestimmt 5 bis 10 Jahre braucht, bis die Fähigkeiten da sind. Oder länger. Aber das Programm muss ich können gegen einen Überfall, auf den man nicht vorbereitet ist. Als sehr Fortgeschrittene können wir das mittlerweile lösen.“[25]
Also hat man heutzutage neuere Kategorien, die das eigene Verhalten in einer Selbstverteidigungssituation besser verständlich und leichter erlernen lassen sollen als in dem „traditionellen Programm“, in dem das „Ziel nicht genau definiert ist“. Man hat heutzutage im WingTsun zwar ein klares Ziel vor Augen, aber dennoch muss man für das Programm, das man im Falle eines Überfalles können muss, 5 bis 10 oder mehr Jahre trainieren. Der Fortschritt in der Entwicklung könnte so formuliert werden, dass bisher nicht jeder im WingTsun zum Ziel kam, aber heutzutage jeder die Möglichkeit hat, nach 5-10 Jahren Training sich effektiv verteidigen zu können.
Über die Formen im WingTsun
Die Bedeutung der WT-Formen scheint nach der Logik Herrn Kernspechts immer weiter abgenommen zu haben. Es hat zumindest den Anschein einer Verschiebung des Schwerpunktes in auf die Suche nach „philosophischen Konzepten“ gegeben, die unterschiedlich ausgelegt werden könnten. Dazu Herr Kernspecht:
„Es kommt immer darauf an, wie man WingTsun definiert. Wenn ich WingTsun als Prinzip definiere, als ein Konzept, dann ist es formlos. Wenn ich aber WingTsun definiere als die Summe seiner Bewegungen, dann hat es eine Form. Und es gibt noch einen zweiten Aspekt, warum wir, selbst wenn wir wollten, nicht wirklich auf die Formen verzichten können, wenn wir WingTsun machen. Ganz einfach: Weil keiner mehr erkennen würde, dass es WingTsun ist. Formloses WingTsun wären reine Konzepte, die ich so oder so auslegen könnte. Das heißt, man würde nicht sehen, ob ich WingTsun mache, oder ob ich Taijiquan oder Xing Yi oder Ba Gua oder mittelalterliches Jiu Jitsu vielleicht. Das würde man nicht richtig sehen können. Für unsere Identifikation ist es wichtig, dass wir die Formen – trotz notwendiger neuer wissenschaftlicher Programme – nicht sterben lassen. Sie liefern Zugehörigkeit, Tradition, ein Vokabularium mit vielen Mustersätzen und – sie entwickeln etwas, was man Bewusstsein nennt. Schließlich ist Kämpfen nicht alles im Leben.“[26]
Dieses Zitat ist bemerkenswert. Herr Kernspecht offenbart hier ein höchst oberflächliches Verständnis der Formen, und möchte die Formen im WT behalten, da sie Zugehörigkeit, Tradition und Identifikation stiften und Bewusstsein entwickeln.
Was für ein Bewusstsein soll denn durch die Form entwickelt werden, wenn man die Form nicht begreift als ein Instrument für den unbewaffneten Kampf? Aus welchem Grunde sollte denn ein Schüler jahrelang eine Form lernen, wenn er die Bedeutung der „Mustersätze“ nicht erklärt bekommt? Nur dafür, dass er sich daran erinnert, dass man WingTsun macht und nicht Taijiquan? Als Antwort ist diese Aussage ein bisschen wenig und nicht gerade zufriedenstellend.
Man kann die Formen so einfach nehmen, wie es immer propagiert wurde: Wing Chun ist ein effektives System der Selbstverteidigung. Und die Formen waren dafür entwickelt worden, dass man damit kämpft. Sie sind das Ergebnis einer Entwicklung über viele Generationen hinweg, in denen das vorhandene Wissen – höchstwahrscheinlich auch immer im praktischen Vergleich mit Kämpfern aus anderen Stilen – eingeflossen ist und bewahrt wurde.[27] Das Erlernen der Formen ist das stufenweise Aufbauen des Handwerkszeugs und dann die Schulung in der korrekten Benutzung desselben.
Samuel Kwok hat in seinem Buch „Mastering Wing Chun“ den Vergleich mit dem Bau einer Waffe verglichen. Demzufolge gleicht die Siu Lim Tao dem „Bauen einer Waffe“, die Chum Kiu dem „Benutzen einer Waffe“, die Biu Gee der „Perfektionierung der Waffe“ und die Holzpuppe dem „Testen der Waffe. [28] Dieser Vergleich deutet den progressiven Aufbau des Wing Chun-Systems durch die Formen an, allerdings wird die Holzpuppenform vor der Biu Gee unterrichtet. Das „Testen der Waffe“ kommt vor dem „Perfektionieren der Waffe“. Manche Lehrer unterrichten die beiden Formen innerhalb des Wing Chun-Systems auch parallel. Es gibt aber auch gute Gründe dafür, die Holzpuppenform vor der Biu Gee zu unterrichten, weil die Anwendungen der Holzpuppenform eher in der mittleren Distanz zum Einsatz kommen und die der Biu Gee erst in der kurzen Distanz.
Herr Kernspecht nimmt eine Trennung vor zwischen „WingTsun als Summe seiner Bewegungen“ und „WingTsun als Konzept“, welches ohne Form ist. Aber mit welchem Konzept möchte man denn dann Wing Tsun praktizieren, wenn „sie so oder so ausgelegt“ werden können? Wenn Herr Kernspecht Recht hat mit der Behauptung, dass Wing Tsun reines Konzept ist, dann ist das, was wir heute unter „Wing Chun“ verstehen, völlig beliebig und sinnfrei.
Das wäre ähnlich der Entwicklung im modernen Jeet Kune Do unter Berufung auf Bruce Lee, dass jeder der kämpft, sein eigenes Jeet Kune Do betreibt! Das sagt alles und nichts! Und es ist vor allem weit entfernt von „Wissenschaft“. Wenn es also nur darauf ankommt, welche Definition für das eigene System zugrunde gelegt wird, dann wird Wing Chun völlig beliebig.
Man könnte man dann auch keine wissenschaftlich fundierte Aussage über diesen oder jenen Stil treffen, ohne vorab die „Definition“ genau beschrieben zu haben. Ein Urteil über andere Stile in dem Sinne, wie das von Herrn Kernspecht hat also überhaupt keine Grundlage:
„Ich habe ja immer gesagt: „Die Leute machen nicht WingTsun wie WingTsun ist, sondern sie machen WingTsun, wie sie sind.“ Und Beifall möchte ich auch nicht von allen ernten. Es sollte uns zu denken geben, wenn unsere Sachen allen gefallen. Das wäre ein Zeichen, dass sie nichts taugen: denn das Vortreffliche ist nur für wenige.“
Herr Kernspecht macht ja eben genau das und hat seit jeher nichts anderes gemacht: Er macht sein WingTsun, wie er ist und hat es in fast 40 Jahren in eine Richtung entwickelt, in die er weiter gedacht hat. Es werden die Leute kritisiert, die WingTsun auf Ihre eigene Art betreiben, sprich: als eigenständiges Individuum in der Lage sind, auch eigene Wege und Konzepte auszuprobieren und zu vergleichen, damit das eigene Wing Chun besser wird. Also im Sinne der wissenschaftlichen Definition: „als praktisches Mittel der Selbstverteidigung“ weiter zu entwickeln und zu perfektionieren.
Aber wenn dann Leute mit Ihrem WingTsun zu anderen Resultaten kommen, wie das WingTsun von Herrn Kernspecht, dann ist dies das Resultat von unterschiedlichen Bewusstseinsstufen:
„Da gibt es eben bestimmte Bewusstseinsstufen und Menschen, die in bestimmten Bewusstseinsstufen sind, die können nur dieses einfache Hau-Ruck-WingTsun machen. Für das andere sind sie – noch – nicht reif, oder werden es vielleicht auch nie.“[29]
Wenn man die eine Aussage, man könne WingTsun als Konzept definieren, dass man „so oder so auslegen kann“, als zutreffend annimmt, dann sollte man einerseits als Wissenschaftler in der Lage sein, von der eigenen Auslegung zu abstrahieren und ein anderes Konzept auch als solches zu erkennen und zu analysieren. Diese Fähigkeit ist die Grundlage für wissenschaftlichen Fortschritt überhaupt. Aber dann kann man andererseits nicht einfach behaupten, dass das WingTsun von anderen nicht das ist, was WingTsun ist. Denn diese Aussage wiederum setzt voraus, dass WingTsun genau das ist, was man selbst als WingTsun definiert. Also ist die Aussage – „Die Leute machen nicht WingTsun wie WingTsun ist, sondern sie machen WingTsun, wie sie sind.“ – unlogisch, wenn beide Annahmen gleichzeitig zutreffen sollen.
Der Zusammenhang zwischen Bewusstseinsstufen und dem von Herrn Kernspecht betiteltem „einfachen Hau-Ruck-WingTsun“ basiert auf dem gleichen Denkfehler.
Einerseits kann man die Bewusstseinsstufen, die zu einem unterschiedlichen WingTsun führen nicht definieren. Höhere Bewusstseinsstufen würden also dazu führen, dass man WingTsun als dasjenige erkennt, welches Herr Kernspecht zuvor definiert hat. Andererseits wird wohl vorausgesetzt, dass „einfaches Wing Chun“ gleichbedeutend ist mit „primitiv“, was aber im Zusammenhang erst genau erklärt werden müsste.
Denn selbst im WingTsun wird ja immer noch danach gesucht, die Komplexität des WingTsun zu reduzieren. Vereinfachung ist das Ziel und sehr wohl ein Zeichen für ein durchdachtes und intelligentes System.
Dazu ein Zitat:
„Die Wege zur sicheren Selbstverteidigung führen über Reduktion der Komplexität und aktive Rückwärtsplanung zum richtigen Timing. Aus jeder Bewegung des Gegners müssen diejenigen Bewegungsanteile per Tastsinn erkannt und ausgenutzt werden (Coopetition), die dem WT-Anwender helfen, nicht getroffen zu werden, sondern selbst den entscheidenden Treffer anzubringen. (…)“[30]
Der Zusammenhang von „einfachem Hau-Ruck-WingTsun“ und einer – wie auch immer gearteten – Bewusstseinsstufe hat überhaupt keine Grundlage. Und die gleichfalls unterstellte Gleichsetzung von „Einfachheit“ und „Hau-Ruck-WingTsun“ ist unlogisch, wenn im eigenen System ebenfalls die „Reduktion von Komplexität“ angestrebt wird. Was bitte ist daran „Wissenschaft“?
Es stellt sich die Frage, ob nicht innerhalb des WingTsun-Systems die Fehler zu suchen sind, die dazu führen, dass man eine nicht unerhebliche Zeitspanne des Übens braucht, um WingTsun anwenden zu können. Die Gründe können in einem komplexen Graduierungssystem zu suchen sein, in einer fehlerhaften Auslegung der „Kampfprinzipien“, in fehlendem Wissen um die anatomischen Strukturen und Mechanismen, die ein Schüler entwickeln muss, damit seine „Technik“ anwendbar wird.
Und es stellt sich die Frage, wie die Problematik der praktischen Anwendung in einem anderen Wing Chun-System beantwortet wird. Im Vergleich zu dem oben Gesagten ist das Ip Man Wing Chun anders aufgebaut und beinhaltet ein anderes Konzept der Kampfprinzipien.
Denn genau aus dem Grunde, „dass die Formen dies und das entwickeln“, sind sie entstanden. Denn nur so konnte man in früheren Zeiten einem Schüler zeigen, wie die Bewegungen auszuführen sind, damit sie anwendbar wurden und genauso ist das Wissen um die Wing Chun-Konzepte und – Prinzipien in die Form eingeflossen. Denn wie soll Selbstverteidigung funktionieren, wenn man das Handwerkszeug nicht lernt? Und wo findet man dieses? In der Form!
Die Formen im Ip Man Wing Chun
Man kann die Veränderung der WingTsun-Form ganz deutlich im Vergleich zu der Form sehen, die Ip Man ein paar Tage vor seinem Tod auf Video aufgezeichnet hat. Grandmaster Ip Man hatte ein paar Tage vor seinem Tode die drei ersten Formen aufgezeichnet.
Ip Man wollte mit diesen Aufnahmen sein Wing Chun am Ende seines Lebens der Nachwelt hinterlassen. Man darf man also annehmen, dass die aufgezeichneten Formen das endgültige Ergebnis seines eigenen Forschens und Unterrichtens am Ende seines Lebens waren.
Nach der Darstellung offensichtlicher Widersprüche im WingTsun-Konzept, geht es hier im weiteren hauptsächlich um die Interpretation der Wing Chun- Bewegungen, da im Ip Man Wing Chun-System die Kampfprinzipien in den Bewegungen der Formen enthalten sind.
Als Stichwort für meine Schüler benutze ich immer den Ausdruck „Baukastensystem“, aber das ist nicht ganz zutreffend. Eher müsste man im Ip Man Wing Chun von einem „Reißverschluss -System“ sprechen, in der mit jeder Sequenz einer Form ein weiterer Schlüssel des Systems in die Hand des Schülers gelegt wird, damit er das System – und vor allem die richtige Reihenfolge – und damit auch die richtige Anwendung – der Wing Chun-Prinzipien Schritt für Schritt erlernen und analysieren kann.
Das Erlernen der Wing Chun-Formen sind also die Voraussetzung für das korrekte Verhalten in einer Selbstverteidigungssituation. Und diese Vorbereitung beginnt mit der ersten Handbewegung der Form, in der das Zentrallinienprinzip vorhanden ist und so weiter. Dies führt in der konsequenten Anwendung dazu, dass der Schüler viel schneller kampffähig wird.
Dieser Ansatz ist insofern neu, dass es noch keine ausführliche Darstellung der „Schlüssel zum Wing Chun“[31] gibt. Grandmaster Trevor Jefferson[32] benutzt dafür immer den Ausspruch: „The form is the syllabus!“ – „Die Form ist der Lehrplan!“
Dieses Konzept ist weit davon entfernt, die Formen zu degradieren, um „Zugehörigkeit“ und „Identifikation“ zu stiften. Sie bildet den Kern des Wing Chun als Kampfsystem und führen den Schüler in einer logischen Abfolge von einfachen zu komplexeren Konzepten im Wing Chun und zu der Fähigkeit, Wing Chun in einer Kampfsituation anzuwenden. Mit einem bloßen Konzept kann man nicht kämpfen, man braucht das Handwerkszeug dazu, und ohne Bewegung macht das beste Konzept in der Selbstverteidigung keinen Sinn. Aber auch die Bewegungen brauchen ein Konzept, wenn sie effektiv genutzt werden sollen?
Wie sollte man da zwischen „Wing Chun als Summe seiner Bewegungen“ und „Wing Chun als Konzept“ trennen können?[33] Die Konzepte des Wing Chun sind in der Form versteckt. Und dies ist der Grund, warum sie sich nicht demjenigen offenbaren, dem sie nicht erklärt wurden.[34]
Warum erklärt Herr Kernspecht seinen Schülern dann nicht, wofür die Formen gut sind und warum will Herr Kernspecht dann „formloses Wing Tsun“ ?
Und dies ist auch das Geheimnis für die Einfachheit des Wing Chun.
„Der Kern“ der Formen
Wenn man die Grundprinzipien diskutieren möchte, und – ausgehend von der Systematik des Ip Man Wing Chun – die WT-Formen untersucht, dann offenbart die WT-Form einige grundlegende strukturelle Schwächen.[35] Denn außerhalb der WT-Logik kommt man zu anderen Schlussfolgerungen, wenn man nun voraussetzt, dass die Prinzipien in der Form enthalten sind.
In der Siu Lim Tao sind die ersten Schlüssel für die Entwicklung der richtigen Körperstruktur (Einnehmen des Standes), das Zentrallinienprinzip (1. Satz der Form), das Prinzip der „kürzesten Wege (2. Satz), Aufbau von spezifischer Kraft –Gung Lik (3. Satz), die sog. „Energiesteuerung“ – Ging (4. Satz), das Prinzip von Abwehren und Schlagen mit derselben Hand (5. Satz), und die 8 Winkel der Selbstverteidigung und die abschließenden Kettenfauststöße (Satz 6 – 8).
Der Aufbau der ersten Wing Chun-Form ist einfach und logisch und für die praktische Selbstverteidigung absolute Voraussetzung, da in ihr die Grundlagen der Wing Chun – Strategie angelegt sind. Die Prinzipien, oder auch „Schlüssel“ des Wing Chun, werden in der zweiten Form fortgeführt, wenn die Schrittarbeit in das System integriert wird. Dort kommen dann die 3 Kampfprinzipien in Zusammenhang mit den 3 Distanzen im Wing Chun zu den bekannten Prinzipien hinzu, die sich von der Lehre der 5 Distanzen im WingTsun unterscheiden.
Dieser Aufbau der Siu Lim Tao ist tatsächlich so einfach, dass man übersieht, wenn man nicht darauf gestoßen wird oder wenn es nicht unterrichtet wird. Wenn der Zweck einer Form – die ja die Grundlage für einen Stil ist -in der Art und Weise wie von Herrn Kernspecht heruntergespielt wird, kann man daraus schließen, dass genau dieses Wissen – das über viele Generationen hinweg weitergegeben und in der Praxis überprüft wurde – in der WingTsun-Methodik nicht vorhanden ist. Oder man kann daraus folgern, dass es eben genau dieses fehlende Wissen ist, welches dazu führt, dass es 10 oder mehr Jahre dauert, bis man WingTsun anwenden kann.
Dazu gibt es einen ganz interessanten Artikel von Oliver König, einem Meisterschüler von Herrn Kernspecht. In der Ausgabe Nr. 29 ihrer WingTsunWelt (2005) schreibt er in seinem Artikel „Der Kern“, Seite 28:
„Der Kern
Das Wesentliche im Wing Chun definiert sich durch einen Kern. Dieser besteht z.B. aus der Schrittarbeit, dem Basis-Chi-Sao usw. Der Kern ist in WT recht einfach – zumindest im Vergleich zu anderen Stilen. So gibt es beispielsweise nur drei waffenlose Formen. Dieser Kern ist zugleich eine Unterrichtsmethodik oder auch eine Möglichkeit, sich das System zu merken, so konnte es leicht weitergegeben werden. Jeder Lehrer unterrichtet aber zusätzliche Übungen, Varianten, Interpretationen usw. Der Kern aber bleibt gleich. Der Kern, die eigentliche Sieger des Wing Chun, hat es über die Jahrhunderte gerettet. Die chinesischen Meister haben es nicht gewagt, diesen Kern zu verändern – zumindest haben sie es nicht getan. Der Kern soll nicht verändert werden, da sonst dem Schüler die Entwicklungsmöglichkeiten geraubt wird. Im WT wird die individuelle Entwicklung gefördert. Der Kern ist die Grundlage dafür.“
Weiter unten in seinem Artikel schreibt er:
„Für den Kern gilt: dieser sollte nicht verändert werden. Der Schüler sollte diesen wirklich gut lernen, denn hier erhält er die Grundlagen für seine spätere Entwicklung. Wenn zum Beispiel jemand die Form nicht korrekt macht, dann wird er im Chi Sao Schwierigkeiten haben, die richtigen Positionen zu finden. Dabei macht die Fremdeinwirkung des Partners die Übung nicht leichter!
Ein WT-Motto sagt „Kleine Idee schlecht, Wing Tsun schlecht!“ Dieses Motto bezieht sich nicht nur auf die Siu Lim Tao („Kleine Idee-Form“), sondern auf die Grundlagen allgemein. Es lässt sich aber auf viele Lebensbereiche übertragen. Ob jemand Musiker oder Spitzensportler ist, wenn die Grundlagen nicht wirklich gut sind, kann das Ergebnis nie überragend sein. Dies ist wohl der Grund, warum auch Meister im Wing Chun immer wieder zu den Formen zurückkehren und diese ständig üben. “ [36]
Doch was geschieht, wenn trotz des ständigen Übens, immer wieder dieselben strukturellen Fehler begangen werden? Der Kern darf nicht verändert werden. Doch genau das ist in der Entwicklung des WingTsun seit den Anfängen geschehen. Der WingTsun-Stil wurde als „reformierter Stil“ gegenüber den „Traditionalisten“ dargestellt.
Der Kern wurde im WingTsun bereits erheblich verändert. Die erste Form im WT entspricht nicht mehr der ursprünglichen Form Ip Man´s. Der erste und wichtigste Schritt, Wing Chun zu „verschlimmbessern“ – zum Nachteil des Anwenders![37]
„Kleine Idee schlecht, Wing Tsun schlecht!“ Das ist im WT immer noch der Fall. Besser kann man es wohl nicht auf den Punkt bringen!
Die Kritik, die Herr Kernspecht hier äußert, ist vor allem die Kritik am eigenen WingTsun-System. Der Bezug zu den Graduierungen ist insofern von Bedeutung, als dass es diese bei Ip Man und vorher nie gegeben hat. Insofern bleibt er sich und seiner WT-Logik treu, die Schwächen seines eigenen Systems zu analysieren und das System dementsprechend weiter zu entwickeln.
Meine eigene Unterrichtspraxis mit Schülern, die bereits schon einmal WingTsun praktiziert haben, bestätigt dies leider nur allzu oft. Sie kommen in den Unterricht mit genau den Fragen, die die Form beantworten sollte: wozu ist diese oder jene Bewegung und warum soll ich die eigentlich machen? Und wie ist die zu benutzen?
Es gibt ein eklatantes Missverhältnis zwischen dem, was in der Theorie propagiert wird und dem, was in der Praxis tatsächlich vermittelt wird. Eine Aussage von einem meiner Schüler, der zuvor zwei Jahre WingTsun trainiert hatte: „Ich hab immer nicht gewusst, wofür wir die Form eigentlich brauchen!“
Da ist insbesondere der Punkt der „Körpereinheit“ in Herrn Kernspechts Konzept der „Großen Sieben“ zu nennen. Hervorragend in der Darstellung, aber leider findet der Schüler, angefangen bei dem Einnehmen des Standes in der ersten Form bis hin zu der Wendung in der zweiten Form gar keinen wirklichen Zugang zur „Körpereinheit“, weil der Stand entgegen der natürlichen Struktur des Skeletts in eine falsche Position gebracht wird und die Wendung beispielsweise nicht mit beiden Füßen gleichzeitig ausgeführt wird, sondern nur mit beiden Füßen nacheinander.
Dies führt dazu, dass die Statik und Struktur des Körpers nur unzureichend genutzt werden. Dies ist vor allem für kleine Personen von entscheidender Bedeutung in der praktischen Anwendung in der Selbstverteidigung, wenn sie es mit einem körperlich überlegenen Gegner zu tun haben.
Für die wissenschaftliche Praxis bedeutet dies, dass der Schüler mit dem Wissen um die richtigen Positionen in der Form, viel schneller diese „Körpereinheit“ erreichen kann, die Ergebnisse auch nachvollziehen und wiederholen kann. Dann kann man auch davon sprechen, dass jemand mit seiner Form tatsächlich etwas anfangen kann und dieses Wissen in der Selbstverteidigung benutzen kann.
Dies entspricht den wissenschaftlichen Grundbedingungen nach der „Nachvollziehbarkeit“ der Ergebnisse, der „Reproduzierbarkeit unter gleichbleibenden Bedingungen“ und der „logischen Widerspruchsfreiheit“ der Ergebnisse.
Dieser Fehler zieht sich durch das gesamte WingTsun-System hindurch und es spielt dann auch keine Rolle, wie viele neue Formen, „Chi-Sektionen“ usw. dazu kommen. Der Fehler liegt in der mangelhaften Körperstruktur in den WingTsun-Formen. Viele WT-ler sind aber auf der Suche danach und hoffen auf eine Verbesserung ihres WingTsun, wenn sie denn die nächsthöheren Programme endlich gelernt haben.
Über die Kampfprinzipien
Die Unterscheidung zwischen dem 1. und dem 2. Kampfprinzip im WingTsun
Innerhalb der WT-Logik nimmt Herr Kernsprecht eine kleine, geistige Trennung zwischen dem ersten und dem zweiten Kampfprinzip vor, in welcher deutlich wird, warum „man wirklich zehn Jahre oder mehr üben muss, um mit dieser zweiten Seite Erfolg zu haben.“ [38]
Diese Trennung ist das grundlegende Problem des Wing Tsun: Der Mitbegründer des modernen WingTsun hat die Kampfprinzipien nicht verstanden!
Das 1. WingTsun – Kampfprinzip
Dazu Herr Kernspecht in seinem Interview:
„BlitzDefence ist die eine Seite der WingTsun-Medaille, die eine Hälfte der WingTsun-Formel. Diese Seite besagt: angreifen, bevor der andere angreifen kann oder in seinen Angriff hinein starten. Das ist eigentlich das, was man weltweit im WingTsun, egal in welcher Schreibweise, immer sieht und für WingTsun hält.[39] Die ganze Formel heißt aber: „Nimm auf, was kommt, begleite nach Hause, was geht und ist der Weg frei, stoße vor!“[40] Dabei steht BlitzDefence für: „Ist der Weg frei, stoße vor.“ Es ist eine völlig einseitige Angelegenheit, bei der ich allein tätig werde, ein Monolog. Der andere macht noch nichts. Er will vielleicht etwas machen. Und ich richte mich überhaupt nicht nach dem, was er tut oder besser noch nicht tut. Der Weg ist (noch) frei, weil er nichts macht. Ich bringe das Ganze schnell zu Ende. Aus mir, dem auserkorenen Opfer, wir der Täter, aus dem Wild der Jäger. Das ist die eine Seite des WingTsun. Die gab es vor der Erfindung des BlitzDefence ja auch: in Form von Kettenfauststößen. Eigentlich hat BlitzDefence die gleiche Idee wie die Kettenfauststöße – nur dass ich beim BlitzDefence die Kettenfauststöße als allerletztes Mittel, als ultima ratio einsetze, weil ich vor Gericht damit große Schwierigkeiten bekommen würde. (…)“[41]
Hier wird also das erste Kampfprinzip als eine der beiden möglichen Strategien in einem Kampf dargestellt. Das „Ist der Weg frei, stoße vor“ wird demnach zu einer möglichen Handlungsalternative, in der man versucht, einen Kampf möglichst schnell zu beenden und dem Gegner zuvor zu kommen, am besten noch, bevor er etwas unternimmt. Im Hinblick auf die juristischen Rahmenbedingungen wurde das BlitzDefence-Programm entwickelt, um die Folgen dieser „proaktiven Handlungsweise“ abzumildern. Im Sinne der vom Gesetzgeber geforderten „Verhältnismäßigkeit der Mittel“ auch eine sinnvolle Strategie.
Soviel zunächst zu dem 1. Kampfprinzip des WingTsun, die nach Aussage Herrn Kernspechts der Strategie des Blitzdefence zugeordnet wird und dementsprechend in einem Ritualkampf dazu führt, dass der Anwender „proaktiv“ dem Gegner zuvorkommt, da der Anfänger noch keine ausreichenden Fähigkeiten wie Timing, Tastsinn etc. ausgebildet hat.
Das 2. WingTsun – Kampfprinzip
Das 2. Kampfprinzip ist demnach die zweite Seite der Medaille. Dazu wieder Herr Kernspecht:
„Und die andere Seite der Medaille ist: „Nimm auf, was kommt…“ Das ist die Seite, für die man dann das ReakTsun braucht, wo man reagieren, Tastsinn haben, auch Intuition haben muss. Ein Programm, für das man bestimmt 5 bis 10 Jahre braucht, bis die Fähigkeiten da sind. Oder länger. Aber das Programm muss ich können gegen einen Überfall, auf den man nicht vorbereitet ist. Als sehr Fortgeschrittene können wir das mittlerweile lösen.“[42]
Also, nun ist die Katze aus dem Sack!
Früher konnte man WingTsun in aller größter Einfachheit lernen und man sollte alle Methoden vergessen, die mehr als 12 Bewegungen nötig haben. Aber nun braucht es etwa 5 bis 10 oder noch mehr Jahre, bis man das zweite Kampfprinzip in einer Überfallsituation benutzen kann??? Quo Vadis, WingTsun?[43]
Auf die nächste Frage der WT-Welt in diesem Interview: „Dann ist es also eine Frage des Niveaus?“ lautet die Antwort:
„Ja. Ich glaube, dass man wirklich zehn Jahre oder mehr üben muss, um mit dieser zweiten Seite Erfolg zu haben. Allerdings glaube ich auch, dass es bei jemandem, der nur der Seite „Ist der Weg frei, stoße vor“ folgt, nach einiger Zeit stagniert: weil man nur bis zu einem gewissen Grad seine Geschwindigkeit, seine Kampfkraft, Schlagkraft, Aggression steigern kann. Irgendwann ist damit Schluss. Es geht nicht mehr weiter. Im Gegenteil, mit dem Älterwerden kommt dann eher ein Rückschritt. Die Kraft, auch die Hormone lassen nach. Wenn man also ausschließlich diese proaktive WingTsun-Seite übt, glaube ich nicht, dass es langfristig weitergeht. Wenn man aber die zweite Seite übt, wird es sehr viel länger dauern, bis das Üben Wirkung zeigt, aber damit wird der Fortschritt auch bis ins hohe Alter andauern.“[42]
In dieser Aussage kommt die Trennung von erstem und zweitem Kampfprinzip deutlich zum Vorschein. Nach diesem Konzept beinhaltet WingTsun entweder die proaktive Herangehensweise (1. Prinzip) , die auf Geschwindigkeit, Kampfkraft, Aggression, Schlagkraft und Hormone basiert oder die intuitive Seite mit Tastsinn (2. Prinzip), die langfristig gesehen einen nachhaltigeren Fortschritt verspricht, aber eben auch länger braucht, bis man sie beherrscht. Dies ist eine Aussage über die Art und Weise, wie man sein eigenes WingTsun praktiziert und weiterentwickelt. Auf der einen Seite werden Faktoren in den Vordergrund gerückt, wie Kraft, Schnelligkeit usw.., die nur begrenzt trainierbar sind und sich irgendwann nicht weiter entwickeln lassen. Die Vorgehensweise nach dem 2. Prinzip soll dagegen diejenige sein, welche länger bis zur Anwendungsreife braucht, aber auch bis ins hohe Alter hinein weitere Fortschritte ermöglicht.
Aber neben den unterschiedlichen WingTsun-Wegen unterscheidet Herr Kernspecht das 1. und 2. Kampfprinzip im Hinblick auf unterschiedliche Selbstverteidigungssituationen, welche auch unterschiedliche Strategien benötigen. Diese Unterscheidung hatte Herr Kernspecht in seinen Publikationen mit der neuen Kategorie des Ritualkampfes in die Selbstverteidigung eingeführt und entwickelt daraufhin ein anderes Verständnis der Kampfprinzipien.
Die Unterscheidung „Ritualkampf“ und „Überfall“
Der Ritualkampf
Diese Handlungsweise nach dem ersten Kampfprinzip setzt voraus, dass man nun erkannt hat, dass man sich nicht in einer Überfallsituation befindet. Sondern in einer Situation, die Herr Kernspecht in seinen Schriften mit „Ritualkampf“ betitelt hat, in dem eine Kampfhandlung nach einem bestimmten Muster in verschiedenen Phasen abläuft. Laut WingTsunWelt
„lassen sich heutzutage fünf Phasen des Ritualkampfes der 70 – 85% aller Selbstverteidigungssituationen ausmacht, unterscheiden:
Blickkontakt;
Verbale Phase (Stimme);
Schubsen und Zeigen;
Wilde, unkontrollierte, meist runde Angriff;
Nachtreten am Boden (meist zum Kopf; entartete Phase)
Beim Rest handelt es sich quasi um Überfälle, die sehr schwierig zu trainieren sind.“ [44]
Die Entwicklung dieser Unterscheidung zwischen „Ritualkampf“ und „Überfall“ hatte nach Aussage Herrn Kernspechts bereits seit Mitte der 90er Jahre begonnen. Mit seiner Tätigkeit an der Universität in Bulgarien musste er
„dort erklären, was ich hier überhaupt mache. Ich konnte Ihnen nicht nur einfach Techniken zeigen und behaupten: „Die sind super. Glaubt mir das mal.“ Das musste logisch aufgebaut werden. Ich brauchte ein „Problem“, dass ich wissenschaftlich untersuchen konnte. Die gesamte Situation Kampf war dazu viel zu komplex. Ich brauchte eine klare Situation. (…) So konnte ich den Kampf auch nicht in seiner ganzen Komplexität betrachten, sondern habe mir einen Teil herausgesucht – den statistisch am häufigsten vorkommenden. Ihn habe ich unter die Lupe genommen: Ein Typ kommt gerade auf mich zu, er muss eine bestimmte Entfernung von mir haben, sonst könnte er ja nicht zuschlagen, redet erst mit mir, dann in der Abfolge Zeigen, Schubsen, Schlagen. Halt die Art von Kampf, für den ich dann den Begriff „Ritualkampf“ prägte. Der lässt sich prächtig analysieren. Und es lässt sich eine wunderbare Lösung dafür finden: die präventive, proaktive Verteidigung, die ich BlitzDefence nannte. (…) Das war der Ritualkampf. Und dagegen erschuf ich das BlitzDefence. Das war einfach darzustellen.“[45]
Seiner Meinung nach wurde das BlitzDefence-Programm in seinem Buch „Vom Zweikampf“ bereits vorweggenommen, allerdings hatte er dort die „traditionelle chinesische Methode“ vorgestellt.
„Wenn der andere in meinen imaginären Kreis eintritt, den ich für meine Sicherheit brauche, dann steuere ich angezogen wie ein Magnet auf ihn zu und bringe ihn mit Kettenfauststößen zu Strecke. Also bestrafe ich ihn quasi dafür, dass er einen imaginären Kreis überschreitet, von dem er nicht weiß, dass er existiert. Und hoffe dann auf Absolution vor Gericht. Das war technisch gesehen eine funktionierende Lösung und hat auch immer geklappt. Aber das Problem ist bei uns die höhere Instanz vor Gericht. (…) Deshalb fand ich dann die Lösung, dass ich den Gegner mehr als – sagen wir – zweimal gegen meine vordere Hand, die ich aufstelle, tippen lasse, bevor ich zuschlage. (…) Dann ist es sanktioniert, selbst wenn der andere dabei zu Schaden kommt. Das habe ich mir zu Herzen genommen und gesagt, der muss mehrmals gegen meine Hand tippen und cih weiche jedes Mal zurück. Doch dann lege ich los. Aus diesen Gedanken heraus entstand dann das BlitzDefence zusammen mit der Spezialisierung.“[46]
Mit Spezialisierung ist nach Herrn Kernspecht die Festlegung auf eine Seite gemeint, d.h. es gibt eine Hand, die dem Angreifer angeboten wird und es gibt die andere Hand, die zuschlagen soll, obwohl WingTsun normalerweise immer beide Seiten trainiert. Den Grund für die einseitige Vorgehensweise sieht Herr Kernspecht durch die Zeitersparnis, die dadurch erreicht wird:
„Hier habe ich extra dem Hick´schen Gesetz[47] folgend für dieses Programm die Einseitigkeit gewählt; Denn durch die Auswahl zwischen zwei Möglichkeiten und das Nachdenken über eine Entscheidung verliert man viel Zeit. Dadurch ist dann so viel Zeit vergeudet worden, dass der andere mich wahrscheinlich schon k.o. geschlagen hat. Wenn ich eine Technik auf zwei Seiten kann, muss ich darüber nachdenken, mit welcher Seite ich sie mache.“[48]
Dies führte im WingTsun-Unterricht dazu, dass
„ als Verbesserung zum traditionellen WingTsun-Programm das EWTO-Reaktionsprogramm von Großmeister Kernspecht entwickelt“ wurde, „ wobei ihm sein Team, seine Studenten, seine Privatschüler und Schüler und sein eigenes wissenschaftliches Universitätsstudium die notwendigen Grundlagen lieferten.“[49]
Der stufenweise Unterrichtsaufbau sieht vor, das
„der Schüler in kleinen Portionen die verschiedenen Reaktionen eingepflanzt bekommt:
1. Stufe: Der Anfänger verteidigt sich durch Angriff. (Unterstufe = 1. – 3. SG)
2. Stufe: Koopetives Programm (Mittelstufe = 4. – 6. SG)
3. Stufe: Kooperatives Programm (Oberstufe = 7. – 12 SG).
Dabei soll der Lehrer den Schüler nicht überfordern und ihm Zeit zum lernen geben; denn es braucht Zeit, bis das Programm greift. Im Schülergradbereich werden die Übungen jeweils nur auf einer Seite ausgeführt, d.h. beim Rechtshänder ist der linke Arm der fühlende und rechts der schlagende. Erst im Lehrerprogramm wird auch die andere Seite trainiert. Das Gehirn hat aber bereits „intern“ vorgearbeitet und so werden die Reaktionen auf der zweiten Seite mit einem geringeren Zeitaufwand konditioniert.“[50]
BlitzDefence ist also das Ergebnis neuester „wissenschaftlicher“ Erkenntnisse auf den statistisch am häufigsten vorkommenden Fall der Selbstverteidigung. Und innerhalb dieses Musters soll durch die proaktive Strategie „Verteidigens durch Angriff“ zusammen mit der Spezialisierung auf eine Hand die Chancen erhöhen, den Kampf zu gewinnen. Um dies aber zu erreichen, wird der Schüler bis zum Lehrerprogramm dazu gebracht, seine Fähigkeiten nur einseitig auszubilden. Bis zum Erreichen des Lehrergrades innerhalb der EWTO braucht ein durchschnittlicher Gruppenschüler einige Jahre Training, bevor er dann also auch das Programm mit der anderen Hand lernen kann.
Der Verweis auf das Hick´sche Gesetz ist zunächst einmal sinnvoll, aber es wird in der Praxis nicht richtig umgesetzt. Die Schlussfolgerung Herr Kernspechts, dass man Zeit verliert, wenn man über die eine oder andere Hand nachdenkt und man deshalb besser sich auf eine festlegt, ist irreführend. Denn wenn man das „Prinzip der Zentrallinie voraussetzt, was in der Logik Herrn Kernspechts hier nicht vorkommt, dann spielt es keine Rolle, welche Hand den ersten Kontakt herstellt. Dadurch, dass man vor einer Kampfhandlung beide Hände beschwichtigend vor den Körper nehme, mache ich es mir in der Tat noch leichter, den Kontakt zum Gegner herzustellen, da es keine Rolle spielt, ob bei einem bestimmten Angriff die rechte Hand evtl. Pak Sao ausführt oder die linke Hand Tan Sao. In derselben Situation kann auch die rechte Hand Tan Sao oder die linke Pak Sao ausführen. Die Bewegungen können gespiegelt werden. Und genau dies ist die Voraussetzung dafür, dass man im Voraus nicht über eine Technik nachdenken muss.
Dem Schüler durch ein vorgegebenes Programm einige Jahre auf eine Seite festzulegen, mit dem Argument, das das Gehirn bereits „intern“ vorgearbeitet hat, ist nur halb richtig. Denn diese interne Vorarbeit des Gehirns findet sofort statt und nicht mit einigen Jahren Unterschied. Es gibt überhaupt keinen Grund für eine einseitige Trainingsmethodik. Dies führt nur zu einem viel langsameren Lernfortschritt.
Moshe Feldenkrais[51] hat in seinen Büchern die Mechanismen des Lernens neuer Bewegungsmuster detailliert dargestellt. Sobald ein Muster im Gehirn neu etabliert worden ist, kann es auch eingesetzt werden. D.h. es gibt keinen methodischen und lerntheoretischen Grund, eine Methode nur einseitig zu trainieren und dass evtl. einige Jahre lang.
Die Unterscheidung verschiedener Kategorien einer Kampfhandlung bedeutet für einen Wing Chun-Anwender, dass er – vor allem unter Stress – im Voraus weiß, ob er nach Plan „Blitzdefence“ anwenden kann oder er sich doch in einer Überfallsituation befindet.
Die eigene Handlungsweise bedingt, dass man die Aktion des Gegners im Voraus kennt und sich darauf einstellen kann. Innerhalb der WT-Logik geht man tatsächlich davon aus, dass es möglich ist, Verhalten eines Gegners im Ritualkampf vorzuplanen. Dazu nochmal Herr Kernspecht:
„Da kann man nicht von Sicherheit reden und dass man vorher weiß, wie es abläuft. Beim Ritualkampf denke ich schon, dass er planbar ist, solange er nicht außer Kontrolle gerät: Wenn der andere zum Beispiel zurückspringt und ein Messer zieht oder so, entwickelt sich was ganz anderes. Aber grundsätzlich ist ein Ritualkampf planbar und deshalb kann ich auch mit Techniken herangehen.“[52]
Blitzdefence ist also die Methode, die man – spezialisiert auf die eine fühlende und eine schlagende Hand – im Unterricht lernt, um in einer der am häufigsten auftretenden Situationen der Selbstverteidigung die Initiative zu ergreifen. Auf die Frage, ob BlitzDefence Selbstverteidigung ist, sagt Herr Kernspecht:
„BlitzDefence ist ganz sicherlich Selbstverteidigung. Eigentlich sogar noch mehr: Angreifen, um sich zu verteidigen. Es ist ja ein Ergreifen der Initiative. Wir haben realisiert, dass der Anfänger nicht wirklich eine Chance hat, wenn er sich verteidigt. Der Anfänger hat nur eine Chance, wenn er die Initiative ergreift. Als Verteidiger muss er sich irgendwie dem Angriff anpassen. Er muss, reagieren, sich anpassen, den Schlag weich abfangen, muss zurückschlagen. Das kann er ja alles noch nicht. Er hat noch nicht gelernt, die Entfernung richtig einzuschätzen. Er hat keinen Tastsinn, kein Timing. Ihm fehlt all das, um zu bestehen. Wir sehen das bei jeder Prügelei oder Schlägerei auf der Straße: Es gewinnt der, der zuerst zuschlägt. (…)“[53]
Der „Überfall“
Im Gegensatz zu der Kategorie des „Ritualkampfes“ wird die Situation des „Überfalls“ behandelt, der ganz anders abläuft als das, was in den meisten Fällen stattfindet.
„Da müssen wir wirklich unterscheiden. Zwischen einem Ritualkampf, der einer gewissen Ordnung folgt, und einem Überfall. (…) Beim Überfall ist es völlig anders. Ich kann mir vorher keinen Plan machen: Da kommt der andere nicht von vorn. Er kommt von der Seite oder von hinten. Es ist Ablenkung im Spiel. Er hat Waffen dabei. Alles kommt unvorbereitet. In diesem anderen Spiel brauche ich Reaktionen, brauche ich Tastsinn und Intuition. Da brauche ich einen 6. Sinn.“[54]
Die Kampfprinzipien nach Ip Man Wing Chun
Die von Herrn Kernspecht existierte Trennung der Kampfprinzipien existiert nicht, da sie nicht auf unterschiedliche Wing Chun-Wege bezogen werden oder auf unterschiedliche Kategorien von „Ritualkampf“ und „Überfall“, sondern auf die zeitliche Abfolge einer einzigen Kampfhandlung durch die 3 unterschiedlichen Distanzen im Wing Chun.
Die Kampfprinzipien und andere Konzepte sind in den Bewegungsabläufen des Wing Chun-Systems zu finden. Es darf also nicht – wie so oft der Fall – davon ausgegangen werden, dass eine einzelne Bewegung einer Form jeweils eine spezifische Anwendung wiedergibt.
Sondern eine Bewegung spiegelt ein Konzept wider. Diese Konzepte werden in derselben Reihenfolge, wie die Formen unterrichtet werden, nach und nach in das System integriert, bis das Wing Chun tatsächlich ein „komplettes Kampfsystem“ ist.
In der weiteren Analyse wird sich zeigen, dass dieser Ansatz zu völlig anderen Ergebnissen führt, als das was über das WingTsun bisher gesagt wurde.
Die Formel der 3 Kampfprinzipien – nach Ip Man lautet:
„Erwarte, was kommt!“ – (Um Kontakt aufzunehmen…)
„Begleite, was geht.“ (Um die Kontrolle über beide Arme und den Gegner als Ganzes zu bekommen.)
„Wenn der Kontakt zu den Armen sich löst, dann folge ich ihm.“ (Um die Lücke zu finden, den Gegner zu schlagen.)
Die zweite Form , „Chum Kiu“ heißt bestimmt nicht zufällig „Suchende Arme“ oder „Suchende Brücke“[55]. In der zweiten Form finden wir das Konzept der 3 Kampfprinzipien und der 3 Kampfdistanzen im Wing Chun-Systen. Diese sind im 1. Drittel der Form enthalten. Nach der dreimaligen Wendung und Doppel – Lan Sao – folgt in der Form die Sequenz: Doppel Biu Sao[56] – Doppel Tan Sao, 3 x Pak Sao, 3 x Jeung Sao (Handflächenstoß).
Wenn man diese 3 Bewegungen analysiert, stellt man fest, dass die Reichweite der Biu Sao am Anfang dieser Sequenz der Fauststoß-Distanz entspricht. Danach folgt die Tan Sao, die exakt eine Handlänge kürzer ist. Die 3 folgenden Pak Sao auf den Unterarm sind ebenfalls eine Handlänge kürzer als die Tan Sao und entsprechen der kürzeren Ellbogen-Distanz.
Die 3 Distanzen im Ip Man Wing Chun sind also in der Form exakt durch die Reichweite der eigenen Hände definiert in Fauststoßdistanz, Kontrolldistanz, Ellbogendistanz. Diese Distanzen liegen exakt eine Handlänge auseinander und innerhalb dieser 3 Distanzen werden die Kampfprinzipien als zeitliche Abfolge in einer einzigen Kampfhandlung angewendet.
Diese Vorgehensweise erklärt den Weg von der ersten Kontaktaufnahme über den Zwischenschritt der Kontrolle des zweiten Armes in der mittleren Distanz, um dann fähig zu sein, einen Kampf in der kürzesten Distanz zu beenden.
Wir haben also in der Chum Kiu eine Sequenz, in der die 3 Kampfdistanzen und die 3 Kampfprinzipien miteinander in Beziehung gesetzt werden und sich daraus das Verhalten in einem Nahkampf entwickeln lässt.
Dies ist ein Konzept, welches viele der diskutierten WingTsun-Probleme löst, ohne dass man ein Psychologie-Studium über Verhaltensweisen im „Ritualkampf“ oder über die „juristischen Begleiterscheinungen“ von Kettenfauststößen machen muss und ohne 10 Jahre investieren zu müssen, bis der Tastsinn in der Lage ist, die richtigen Entscheidungen zu treffen.
Wenn, wie zuvor Herrn Kernspecht behauptet, viele der WingTsun-Prinzipien auf den Nahkampf nicht anwendbar sind“, dann muss hier die Vorgehensweise im Nahkampf nach dem Ip Man Wing Chun dargestellt werden, um den Unterschied deutlich werden zu lassen.
Das 1. Kampfprinzip „Ist der Weg frei, gehe ich vor!“ ist der dieser ersten Distanz (Fauststoßdistanz) zugeordnet, die der 2. Distanz im WingTsun entspricht. Die Kontaktaufnahme, die die Funktion erfüllt, zuallererst die eigene Zentrallinie gegen Treffer zu schützen, findet mit der ersten Biu Sao-Bewegung statt, egal ob rechts oder links. Und es ist dabei völlig gleichgültig, wie ein Gegner angreift, ob er schubst oder zuerst zuschlägt.
Das 2. Kampfprinzip „Wenn der Gegner kommt, erwarte ich ihn,“ ist der mittleren Distanz zugeordnet, innerhalb derer die gesamten Abwehrpositionen der ersten Form ( Tan Sao, Bong Sao, Jut Sao, Jum Sao etc…) eine gewichtige Rolle spielen und in der die Chi Sao – Fähigkeiten zum Tragen kommen und in der die Fähigkeit, die kinetische Energie des Angreifers zu seinem Vorteil zu benutzen. Hier geht es vor allem darum, den Kontakt zum zweiten Arm des Gegners herzustellen um die Kontrolle zu erlangen, die dem Verteidiger eine bessere Position verschafft als dem Angreifer. In dieser 2. Phase kommen all die Reflexe (der Tastsinn, der sich nach Meinung Herrn Kernspechts in den Partnerformen nicht entwickeln lässt. Wir haben weiter oben bereits darüber gesprochen.)zur Anwendung, die man sich im Chi Sao-Training angeeignet hat.
Diese Phase ist für den Wing Chun-Anwender die schwierigste ist und die Fähigkeit der Kontrolle eines Gegners in dieser kurzen Distanz ist das, was das Wing Chun eigentlich ausmacht. Grandmaster Ip Ching sagt dazu:
„Control ist the skill of Wing Chun. Hitting the opponent is the goal, but it is the control of the opponents bridge (arms) which makes hitting possible.“[57]
“Kontrolle ist die Fähigkeit des Wing Chun. Den Gegner zu schlagen ist das Ziel, aber es ist die Kontrolle über der Brücke (Arme) des Gegners, die das Zuschlagen erst ermöglicht.“ (Übersetzung vom Autor).
Genau diese Fähigkeit in dieser Phase ist das Besondere am Chi Sao-Training und am Wing Chun. Diese Komponente ist aber auch jene, die es ermöglicht, trotz der juristischen Rahmenbedingungen in der westlichen Welt Wing Chun anzuwenden, ohne Probleme mit dem Richter zu bekommen. Und es ist ebenfalls das Argument gegen die Behauptung, dass „einige der alten Lösungen bei uns im Westen heute nicht mehr“ greifen.“[58]
Das 3. Kampfprinzip „Wenn der Gegner sich löst, dann folge ich ihm,“ setzt die Fähigkeit voraus, den Moment des Lösens des Kontaktes zu erkennen und die Chance zu nutzen, einen wirkungsvollen Schlag auszuführen, der den Kampf möglicherweise beendet.
Die 3 Kampfprinzipien werden von Trevor Jefferson immer wieder in einer Aussage zusammengefasst: „Find, Control, Hit!“ Wenn ich das präziser Ausdrücken sollte: „Finden in der ersten Distanz, Kontrollieren in der zweiten Distanz, Schlagen in der dritten Distanz!“
Einfacher kann man die Kampfprinzipien nicht zusammenfassen.
Herr Kernspecht kommt in seinem Interview auf ein ähnliches Ergebnis, wenn er die Reihenfolge der WingTsun-Kampfprinzipien plötzlich umdreht:
„Die ganze Formel heißt aber: „Nimm auf, was kommt, begleite nach Hause, was geht und ist der Weg frei, stoße vor!“[59]
Hier kann man vermuten, dass Herr Kernspecht bezogen auf die Anwendung der Kampfprinzipien immer noch nicht verstanden hat, wie sie funktionieren.
Zur Kritik an der Unterscheidung zwischen „Ritualkampf“ und „Überfall“
Herr Kernspecht behauptet[60], dass die asiatischen Lehrer nicht bedacht haben, dass Adrenalin in einer Kampfsituation eine entscheidende Rolle spielt und dass es hierzulande erhebliche „juristische Begleiterscheinungen“ gibt, über die sie „nicht ein einziges Mal nachgedacht“ haben.
Da hat Herr Kernspecht Recht und der Umgang der Chinesen mit Konkurrenten ist bestimmt nicht zimperlich. Hinsichtlich des chinesischen Umgangs mit Menschenrechten glaube ich, dass ein Menschenleben dort nicht viel zählt. Deswegen werden die Asiaten bestimmt wenig darüber nachdenken, dass „es da mit den Kettenfauststößen eventuell Probleme geben könnte.“[61]
Doch diese Feststellung führt für Herrn Kernspecht zu folgender Schlussfolgerung über asiatische Lehrer, die hinsichtlich der Prinzipien nicht ganz zutreffend ist:
„Und sie haben nicht darüber nachgedacht, dass der Kampf in der Nahdistanz beginnt. Viele der WingTsun-Prinzipien lassen sich in Wirklichkeit in der Nahdistanz so nicht durchführen. Zum Beispiel, wenn ich an den WingTsun-Spruch denke: „Verfolge nicht die Arme, sondern die Umrisse des Gegners.“[62]
Der Spruch: „Verfolge nicht die Arme, sondern die Umrisse des Gegners!“ haben im Ip Man Wing Chun keine Entsprechung. Man darf Herrn Kernspecht also glauben, dass er sich mit seiner Aussage auf sein eigenes WingTsun beruft.
Die Kritik darf also nicht verallgemeinert werden auf das Wing Chun seit Ip Man und früher. Warum dies so ist, wird weiter unten begründet, wenn die Kampfprinzipien miteinander verglichen werden. Innerhalb der WT-Logik ist es dann auch einfach zu behaupten, dass die bewährten Methoden im Wing Chun heutzutage nicht mehr anwendbar sind:
„Deshalb greifen einige der alten Lösungen bei uns im Westen heute nicht mehr! Was früher half, kann heute der Nagel in unserem Sarg sein. Technisch mag das meiste, das wir gelernt haben, noch richtig sein – nur juristisch ist es nicht mehr haltbar. Weiterhin müssen wir berücksichtigen, dass uns in solcher Situation aufgrund des Hormoncocktails die Knie zittern und die Arme steif sind. Davon sprechen die Chinesen nie. Angst ist das Tabuwort. Dabei ist das psychologische Problem bedeutender als das rein kampftechnische!“
Herr Kernspecht geht offensichtlich davon aus, dass die Schwierigkeiten des WingTsun-Systems auch in früheren Zeiten gegolten haben.
Die Kampfprinzipien innerhalb des Wing Chun-Systems müssen aber schon länger bekannt gewesen sein. Sonst hätte sich ein Kampfstil wie Wing Chun sich gegenüber anderen Stilen in China nicht behaupten können, schon gar nicht über 300 Jahre hinweg, wenn man der Entstehungsgeschichte des Wing Chun glauben kann. Wir dürfen also annehmen, dass die „Logik der Kampfprinzipien“ im Ip Man Wing Chun andere sind, als das, was Herr Kernspecht voraussetzt.
Denn in dieser Aussage wird Wing Chun und das reformierte WingTsun gleichgesetzt. Wie wir bereits früher festgestellt haben, ist das WingTsun nicht mehr identisch mit dem Wing Chun Ip Man´s und der Zeit davor. Man kann nicht behaupten, dass die „alten Lösungen“ bei uns im Westen heute nicht mehr funktionieren, weil die asiatischen Lehrer „nicht darüber nachgedacht“ haben, „dass der Kampf in der Nahdistanz beginnt.“ Was für eine Ignoranz bezüglich des Wing Chun. Die Aussage, „viele der WingTsun-Prinzipien lassen sich in Wirklichkeit in der Nahdistanz so nicht durchführen“, ist nicht korrekt, wenn man sie auf das Wing Chun überhaupt bezieht. Wing Chun ist ein Nahkampfsystem und die Kampfprinzipien sind genau die Lösung für den Kampf in der Nahdistanz. Dafür war Wing Chun entwickelt worden. Und wir können erklären, warum das so ist.
Was nicht funktioniert ist die Anwendung der „WingTsun-Prinzipien“ und diese sind nicht dieselben wie die Wing Chun-Prinzipien.
Die Aussage Herrn Kernspechts ist genau genommen richtig, er macht nur den Fehler, die Problematik den Asiaten in der Vergangenheit zuzuschreiben und nicht der fehlerhaften Interpretation der Kampfprinzipien im eigenen WT-System. Wollte man die Aussage Herr Kernspechts präziser formulieren, müsste sie lauten:
Viele der WingTsun-Prinzipien im „reformierten WingTsun“ „lassen sich in Wirklichkeit in der Nahdistanz so nicht durchführen.“ Damit hat Herr Kernspecht Recht!
Die unterschiedlichen Distanzen im Wing Tsun und Ip Man Wing Chun
Herr Kernspecht stellt über den Beginn eines Kampfes fest, „dass der Kampf in der Nahdistanz beginnt.“[63]
Die Nahdistanz ist die Distanz, die nach dem WT-Verständnis die zweite Distanz darstellt. Im Verständnis des Ip Man Wing Chun ist dies die 1. Distanz, da man keine Unterscheidung macht zwischen einer vorgelagerten Trittdistanz, in der noch kein Kontakt zum Gegner hergestellt wird und die Reaktion lediglich auf der visuellen Ebene liegt. Dies ist die Distanz, in der der Gegner höchstens mit der Reichweite seiner Beine einen Treffer landen kann.[64] Um aus einer solchen Distanz tatsächlich einen Tritt ausführen zu können, muss der Angreifer mindestens einen Schritt machen. Dies ist der Übergang von der „Trittdistanz“ in die „Nahdistanz“. Folglich finden auch alle Kampfhandlungen erst in dieser Distanz statt. Die Theorie einer „Trittdistanz“ ist daher zur Beschreibung einer Kampfhandlung nicht nötig. Ebenfalls wird im Ip Man Wing Chun auf die „Bodenkampfdistanz“ verzichtet. In der von Herrn Kernspecht beschriebenen Phase eines entarteten Ritualkampfes der damit endet, dass das Opfer mit Tritten zum Kopf verletzt wird, dann sollte vorausgesetzt werden, dass das Konzept genau diese Situation verhindert. Insofern ist das Wing Chun-System so aufgebaut, dass man eine Auseinandersetzung beendet, bevor der Kampf am Boden weiter geht. Der Unterschied zu den Distanzen in den beiden Systemen ist also der, das es im Wing Tsun-System 5 Distanzen gibt, und im Ip Man Wing Chun nur 3 Distanzen. Es fehlen die erste und die letzte WingTsun-Distanz.
In der praktischen Anwendung bedeutet dies auch, dass in der ersten Distanz die Kontaktaufnahme mit der Hand erfolgt, die dem Gegner näher ist. Im Wing Chun ist dies das Prinzip von Man Sao, der fragenden Hand“. Dabei ist es völlig unerheblich, mit welcher Hand und aus welcher Richtung ein Angriff ausgeführt wird. Die Prinzipien in der Chum Kiu beinhalten auch die Konzepte für die Kontaktaufnahme für seitliche Angriffe, unabhängig davon, von welcher Seite ein seitlicher Angriff erfolgt. Auch in diesem Falle reduzieren sich die Möglichkeiten der Kontaktaufnahme auf genau 4 Konstellationen:
Kontakt von außen oder von innen, und dasselbe mit der anderen Hand. Die Kontrolle findet in dem nächsten Schritt statt, wenn der Angreifer evtl. mit seiner anderen Hand einen weiteren Schlag ausführt. Somit beinhaltet Wing Chun bereits das,, was von Herrn Kernspecht als „Formlosigkeit“ bezeichnet. Nur, wenn man nicht weiß, wie es geht, ist es leider nicht anwendbar. Dafür braucht man wiederum die Form, die die nötigen Elemente trainiert.
Die Reaktion auf einen Angriff fällt nicht geplant aus im Sinne einer „Antizipation“, sondern in Form von einfacher Geometrie. Die Hand, die den kürzesten Weg zum Gegner hat, ist die schnellere. Und in dieser Situation gibt es kein „richtig“ und „falsch“.
Es ist nach dem Konzept des Ip Man Wing Chun auch nicht nötig, zwischen einem „Ritualkampf“ und der Strategie des „BlitzDefence“ auf der einen Seite und einem „Überfall“ und den Fähigkeiten des „ReakTsun“ auf der anderen Seite zu unterscheiden, da eine Kampfhandlung immer eine Kampfhandlung darstellt und es überhaupt keine Rolle spielt, ob ich zuvor in einen „Ritualkampf“ oder in einen „Überfall“ hineingezogen wurde.
Findet die Kontaktaufnahme in der mittleren Distanz zu dem zweiten Arm des Gegners statt, ergeben sich vier möglich Handpositionen, aus der heraus eine Entscheidung für eine bestimmte Reaktion getroffen wird. In dieser Phase entsteht immer eine „Entweder-Oder“-Situation, in der es verschiedene Möglichkeiten gibt, die Situation erfolgreich zu lösen und den Kampf zu beenden. Je weiter die Fähigkeiten eines Wing Chun – Anwenders entwickelt sind, desto einfacher wird er in der Lage sein, auf harte Schläge mit bleibenden Folgeschäden für den Angreifer zu verzichten.
Dieses Konzept der 3 Kampfprinzipien als zeitliche Abfolge in einer Kampfhandlung bietet sowohl die Möglichkeit, den Gegner sofort auszuschalten, wenn es in einer Überfallsituation gar nicht anders geht, man kann aber auch einen „Ritualkampf“ unter Berücksichtigung der „Verhältnismäßigkeit der Mittel“, wie es das Notwehrgesetz fordert, erfolgreich bewältigen. Sofern man in der Lage ist, den Gegner zu kontrollieren. Aber genau dies ist das Ziel dieses Konzeptes und wir glauben, dass die Fähigkeit der Kontrolle beider Arme in der mittleren Distanz der entscheidende Aspekt ist, der in einer Kampfsituation den Vorteil verschafft. Und genau in diesem Punkt setzt die Kritik an dem „ReakTsun“-Konzept an, in dem die Reaktionen auf immer den ersten Angriff zugeschnitten sind. Im „ReakTsun“ befindet sich, gemessen an den Prinzipien nach Ip Man Wing Chun, eine erhebliche Sicherheitslücke.
Die ersten beiden Sätze der Siu Lim Tao, der ersten Form setzen die Reihenfolge der Aktionen in der Selbstverteidigung fest:
Die eigene – vertikale – Zentrallinie – in der Form (symbolisiert durch die Bewegung des ersten Satzes: Doppel Gan Sao abwärts, Doppel Tan Sao aufwärts) soll geschützt bleiben, und erst in der zweiten Aktion – horizontale – Zentrallinie (symbolisiert durch den einfachen Fauststoß), wird die Zentrallinie des Gegners angegriffen. Also erst der Selbstschutz vor dem Angriff.
Dies ist die allererste Lektion, die ein Schüler nach Ip Man Wing Chun lernt und ist auch ein wichtiges Argument gegen „BlitzDefence“. Es gibt es gar keine Notwendigkeit, in einer größeren Distanz dem Gegner zuvor zu kommen und „proaktives BlitzDefence“ anzuwenden. Es widerspricht nämlich der Theorie der ersten Form, wo der Selbstschutz vor dem Gegenangriff geht.
Die Schwäche dieses „BlitzDefence“-Konzeptes ist die Tatsache, dass in der Phase des Angriffes der Verteidiger ebenfalls leicht getroffen werden kann. Aus der Sicht des Ip Man Wing Chun ist dies zu erklären durch die verkehrte Reihenfolge in der Anwendung der Kampfprinzipien.
Der Verteidiger, der zum Angreifer wird, wird leicht Opfer von Gegentreffern. Und vor allem kleinere Leute mit einer geringeren Reichweite stoßen bei dieser Vorgehensweise schnell an ihre Grenzen. Ebenfalls kenn ich diese Problematik selbst sehr gut aus meinen eigenen WT-Zeiten, in der die „Universallösung“ nur dann funktionierte, wenn man selbst schneller, aggressiver oder kräftiger war als sein Trainingspartner.
Als weitere limitierende Komponente erscheint die Spezialisierung, die Handlungsweise des Schülers auf eine Seite beschränkt und durch die methodische Vorgabe eines umfangreichen Schülerprogramms für einige Zeit festlegt, obwohl es keinen sinnvollen Grund dafür gibt.
Die Kontaktaufnahme zur zweiten Hand des Gegners ist das, was in der Interpretation der Kampfprinzipien von Herrn Kernspecht fehlt und überhaupt nicht erwähnt wird.
Die Darstellungen der Kampfanwendungen für den 8. Schülergrad in der WingTsunWelt[65] zeigen die verschiedenen Phasen von 1. Antizipation, 2. Adaption, 3. Manipulation, 4. Kollision einer Aktion. In diesen Sequenzen – und in allen neueren Videos von Herrn Kernspecht auf Youtube – wird deutlich, dass alle Aktionen als Reaktion auf den ersten Angriff ausgeführt werden. Der Gegner nutzt also seine zweite Hand nicht oder wartet einfach darauf, getroffen zu werden. Die tägliche Trainingspraxis zeigt, dass dies nicht funktioniert, vor allem dann nicht, wenn der Angreifer tatsächlich Kampferfahrung hat, mit einer schnellen Schlagkombination angreift oder wenn der Verteidiger körperlich unterlegen ist.
Dann ist es auch logisch, wenn Herr Kernspecht analysiert:
„Technisch gesehen ist das BlitzDefence-Programm unglaublich einfach, aber von der psychologischen Seite her ist es sehr, sehr schwierig.“ Ja, in der Tat!
Ausgehend von diesem Konzept ist es also möglich, die Schwäche der „proaktiven“ Strategie des BlitzDefence aufzuzeigen: Diese Strategie baut auf den Erfolg durch die Überraschung und der Geschwindigkeit.
Sollte diese Strategie nicht aufgehen, entstehen Probleme für den Verteidiger, die nicht sein müssen. Es gibt – bei der korrekten Anwendung der Kampfprinzipien in der richtigen zeitlichen Abfolge keinen Grund, etwas vorweg zu nehmen und das Verhalten eines Angreifers „vorauszuplanen“. Dies geht immer mit dem Risiko einher, sich zu täuschen oder sich plötzlich in einer eskalierten „Überfallsituation“ wieder zu finden.
Denn unter den Voraussetzungen einer künstlich geschaffenen Kategorie des „Ritualkampfes“ soll ein WingTsun-Schüler mit begrenzten Mitteln und ohne weitergehende taktile Fähigkeiten in einer Situation bestehen, die planbar sein kann, aber nicht notwendigerweise sein muss.
Und um diese mögliche Eskalation zu einem „Überfall“ erfolgreich meistern zu können, sollte man „ ein weit Fortgeschrittener“ sein.
Sich also darauf zu verlassen, „proaktiv“ in einem „Ritualkampf“ tätig zu werden, kann also fatale Folgen haben, wenn man 5 oder 10, oder mehr Jahre braucht, die Situation zu lösen, die dann entsteht, wenn die eigene „Planung“ falsch war. Das soll gute Selbstverteidigung sein?? Das ist höchst fahrlässig!
Warum sollte man Schüler einer Situation aussetzen, wenn sie nicht verstehen, welche Komponente fehlt, damit die angestrebte Lösung auch mit einer höheren Wahrscheinlichkeit funktionieren kann?
Es ist mit dem Konzept der 3 Kampfprinzipien ebenfalls möglich, dem Wing Chun-Schüler zu zeigen, warum es nicht 5 oder 10 oder mehr Jahre braucht, Wing Chun auch in einer Überfallsituation richtig anwenden zu können.
Die Fähigkeit der Kontrolle eines Gegners wird im Chi Sao-Training erreicht, wenn man es nicht künstlich aufbläht, durch „Partnerformen“, die nicht den Tastsinn entwickeln, den man haben will. Und weiterhin wird ein Schüler nicht durch ein definiertes Programm einseitig auf eine Handlungsweise festgelegt, die er dann ab Lehrerstufe auch zweiseitig üben darf.
Das zusätzliche 3. Kampfprinzip im Wing Tsun
Es wird innerhalb der „WT-Logik“ nach wie vor an der Idee des „nachgiebigen“ oder „weichen“ WingTsun festgehalten.
Zu dem oben Gesagten kommt hier ein wesentlicher Unterschied zwischen den 3 Kampfprinzipien im Ip Man-System und den 4 Kampfprinzipien im WingTsun-System zum Vorschein. Zwischen dem 2. und dem 3. Kampfprinzip wurde nach „WT-Logik“ ein zusätzliches Prinzip eingeführt, welches in Bezug auf das gesamte Wing Chun-System eine gravierende Veränderung darstellte.
Zur kurzen Gegenüberstellung sollen die Kampfprinzipien hier noch einmal gegenübergestellt werden:
Die 4 Kampfprinzipien im WT Die 3 Kampfprinzipien im Ip Man Wing Chun
Ist der Weg frei, stoße vorwärts 1. Erwarte, was kommt!
Wenn der Weg nicht frei ist, bleib kleben! 2. Begleite, was geht!
Wenn die Kraft des Gegners größer ist, gib nach! 3. Wenn der Gegner sich löst, dann folge ihm!
Zieht der Gegner sich zurück, folge!
Im WT-Verständnis wird mit dem 3 Kampfprinzip „Wenn die Kraft des Gegners größer ist, gib nach!“ die Grundlage gelegt für „weiches“ und „nachgiebiges“ WingTsun, wie es seit der Markteinführung in Deutschland und Europa seit Mitte der 70er Jahre immer dargestellt wurde.
Mit der Entwicklung dieser Idee des „weichen“ WingTsun wurde – und wird noch immer – behauptet, man könne sich die Energie des Gegners dadurch zunutze machen, dass man die Energie (kinetische Energie ) des Gegners aufnimmt, um sich dann von der Kraft des Gegners wenden zu lassen.
Dazu wurde in den 90er Jahren eine Unterscheidung zwischen „Traditionalisten“ und „Reformern“ vorgenommen, um den Unterschied innerhalb des Wing Chun darzustellen.
Ein ganz wesentliches Merkmal für die unterschiedlichen Ansätze war die Ausführung der Wendung bei „Traditionalisten“ und „Reformern“. In einer Darstellung der Unterschiede in den Richtungen, die allerdings nur eine grobe Verallgemeinerung darstellt, heißt es über die Wendung[66]:
Traditionalisten
Manche benutzen den Mittelpunkt, manche die Hacken als Achse, um auf beiden Füßen gleichzeitig zu wenden.
Reformer
Sie drehen auf der Mitte der Sohle und zwar einen Fuß nach dem anderen.
Genau so wird heutzutage im WingTsun-System immer noch gewendet. Ein Fuß nach dem anderen.
Dieses Prinzip der „passiven“ Wendung wird ein wenig anschaulich durch folgende Grafik (Zeichnung grob vereinfacht vom Autor):
Das Resultat dieser passiven Wendung ist, dass der WingTsun-Anwender sich so genau an den Gegner anpasst, dass der Gegner eigentlich derjenige ist, der die korrekte Technik des WT-Anwenders hervorbringt. So viel zur idealen Theorie.
Im Unterschied dazu wird im Ip Man Wing Chun so gewendet, wie es die „Traditionalisten“ tun. Es wird auf der Hacke, mit beiden Füßen gleichzeitig gewendet:
Die „aktive“ Wendung verfolgt das Ziel, die ankommende kinetische Energie eines Angriffes von der eigenen Zentrallinie abzulenken.
Es heißt in dem bereits zitierten Artikel[67]:
„Die beiden Seiten („Traditionalisten“ und „Reformer“) haben einen unterschiedlichen Stand und unterschiedliche Methoden zu wenden. Das führt dazu, daß auch ihre Interpretation der 詠春-Prinzipien sehr stark voneinander abweichen. Die Theorie der damit verbundenen Folgen ist sehr kompliziert und wird nicht in Einzelheiten erklärt.“
Eine mögliche Erklärung hierzu findet man in einem kurzen Artikel von Shaun Rawcliff über die Zentrallinientheorie, in dem es heißt:
„Die Zentrallinie ist in Wahrheit nicht einfach eine Linie, sondern besteht aus mehreren imaginären Linien und Ebenen, die in Verbindung mit verschiedenen Konzepten und Prinzipien eine wichtigen Teil des Wing Chun-Systems ausmachen.
Sick Jeen
Dies lässt sich als „gerade Linie“ übersetzen und kann als eine imaginäre Linie betrachtet werden, die vertikal durch die Mitte des Körpers verläuft[68]. Indem man direkt auf die Sick Jeen schlägt, muss der Körper des Gegners die volle Kraft des Schlages aufnehmen, wenn der Schlag dagegen seitlich der Sick Jeen auftrifft, wir die Auftreffenergie den Körper bestenfalls dazu bringen, sich wegzudrehen, wobei er um die Sick Jeen rotiert. Dadurch wird der Effekt des Schlages reduziert, und es ist durchaus möglich, dass der Gegner den resultierenden Dreheffekt benutzt, um die Kraft seines eigenen Gegenangriffes zu erhöhen.“ [69]
Dies lässt sich aber nur realisieren, wenn die Hüfte vollständig drehen kann und die Rotation tatsächlich in der Mitte des Körpers stattfindet, ohne das die Stabilität des Körpers während der Rotation erhalten bleibt. In seinem ReakTsun-Programm demonstriert Herr Kernspecht genau diese Wendung und nicht mehr die „passive“ Wendung aus seinem „traditionellen“ Programm.
Wenn das dazwischen geschobene 3. Kampfprinzip in dem Moment der Kontaktaufnahme bei einem Angriff zur Anwendung kommen soll, dann soll man es schaffen, in dem Bruchteil einer Sekunde sich an die Bewegung des Gegners anzupassen. Mit der einsetzenden Wendung aus der Richtung verschiebt sich der Körperschwerpunkt des WingTsun-Anwenders von einem Punkt zwischen den Füßen auf das hintere Standbein, was in der Praxis meistens dazu führt, dass der Verteidiger seinen stabilen Stand und die Körperstruktur verliert, die es ihm eigentlich erst ermöglichen soll, die Energie (kinetische Energie eines Angriffes) aufzunehmen und abzuleiten.
Dazu wieder Shaun Rawcliff[70]:
„Die Stärke aller Wing Chun-Techniken liegt in der korrekten Form und Struktur der jeweiligen Technik und nicht in der physischen Muskelkraft des Anwenders. Alle Wing Chun-Stände basieren auf einer Reihe von Dreiecken, die eine Dreieckspyramide bilden. Die Defensivtechniken und die gleichzeitigen Gegenangriffe formen zusammen ein Dreieck; dadurch wird eine stabile, starke und einheitliche Struktur gebildet, die wegen ihrer Form schwer zu durchdringen ist und automatisch jede ankommende Kraft ablenken. (…)
Im Wing Chun werden die oben aufgeführten Zentrallinienkonzepte und –theorien miteinander kombiniert, um den „Zentrallinienvorteil“ über den Gegner zu erlangen. Zentrallinienvorteil ist dann gegeben, wenn man in der Lage ist, die Tse M Seen[71] zu kontrollieren und den Gegner schlagen kann, ohne getroffen werden zu können. Dies wird durch das Herstellen korrekter Winkel und durch richtiges Positionieren des Körpers in Relation zum Gegner erreicht, so dass man dem Gegner zugewandt ist, er einem selbst aber nicht. Es ist von größter Wichtigkeit, dass man die Zentrallinientheorie vollkommen versteht, da sie die konzeptuelle Grundlage für das gesamte Wing Chun-System darstellt.“
Die „passive“ Wendung ermöglicht nicht das Erreichen des entscheidenden „Zentrallinienvorteils“, da der WingTsun-Anwender sich bei der „passiven“ Wendung von der Zentrallinie des Gegners ein wenig fortbewegt. Durch die Gewichtsverlagerung verschiebt sich der Körperschwerpunkt zu Ungunsten des Verteidigers zu weit nach hinten. Der Körper verliert an Stabilität. Dieser strukturelle Verlust wird von WT-Anwendern häufig durch zusätzliche Kraft oder Geschwindigkeit kompensiert.
Dies ist der Punkt, an dem das Wing Tsun-Prinzip in der Praxis tatsächlich nicht funktioniert, wenn der Gegner tatsächlich darauf aus ist, hart anzugreifen oder wenn das WingTsun-Konzept von körperlich schwächeren Personen angewendet werden soll.
Alles in Allem kommt das Wing Chun-System mit 3 einfachen Kampfprinzipien aus. Das im WT-System definierte 3. Kampfprinzip hat es nach Ip Man nicht gegeben. Man darf also annehmen, dass es nachträglich seinen Eingang in das System gefunden hat, nachdem Wing Chun im Zuge der Verbreitung des WingTsun „reformiert“ wurde. Diese Ergänzung der Kampfprinzipien um ein weiteres hatte zur Folge, dass aus der aktiven Wendung und das aktive Umlenken von kinetischer Energie die Idee des „weichen“, „nachgebenden“ WingTsun entstanden ist. Diese Interpretation vom Umgang mit „Kraft“ eines Angreifers hat aber die Effektivität keineswegs verbessert, sondern die Anwendbarkeit des Wing Chun erheblich beeinträchtigt. Die täglichen Erfahrungen mit ehemaligen WingTsun-Schülern in meinem Unterricht bestätigen dies.
Fazit
In dem Artikel über die Gegenüberstellung von „Traditionalisten“ und „Reformern“ wird die Frage gestellt[72]:
„Wer hat recht, wer hat Unrecht?“ und der Autor des Artikels kommt zu einer ehrlichen und einfachen Aufforderung, wie man mit dem Wing Chun umzugehen hat, um das Wing Chun weiterzuentwickeln.
Tan Sao, Bong Sao und Fook Sao sind die wichtigsten Kampftechniken im 詠春. Der Stand, die Veränderung des Standes und die verschiedenen Anwendungen bilden die Grundlage für die 詠春-Prinzipien. Diese muß man beherrschen, bevor man im 詠春 fortgeschrittene Techniken beginnen kann. Wer hat also recht? Die Traditionalisten oder die Reformer? Die Antwort darauf ist nicht einfach. Wir müssen friedlich die betreffenden Prinzipien daraufhin untersuchen. Sektiererische Vorurteile oder politische Motive haben dabei keinen Platz. Wir uns (den neuen Ideen) öffnen und den richtigen Weg für 詠春 finden. So kann man 詠春 stärker machen und verbreiten.“[73]
Sich den „neuen Ideen“ des reformierten WingTsun zu öffnen hatte seit der Einführung dem WingTsun einen außerordentlichen Erfolg gebracht.
Aber aus der Analyse der Kampfprinzipien in den unterschiedlichen Konzepten ergibt sich eine offensichtliche Schwäche des „reformierten“ WingTsun, welches durch Herrn Kernspecht bis heute zu „wissenschaftlichem“ WingTsun weiter entwickelt wurde.
Jenseits der „WT –Logik“ und durch die praktische Erfahrung des Vergleiches zwischen den verschiedenen Unterrichtsmethoden komme ich zu der Schlussfolgerung, dass die Axiome des WingTsun-Systems fehlerhaft sind.
Aus meiner eigenen Erfahrung mit Ihrem Unterrichtssystem und auf dem Hintergrund meines jetzigen Wissenstandes komme ich zu der Feststellung, dass das WingTsun-System die Schlüssel für das richtige Verständnis der Formen, für die Anwendung der Kampfprinzipien und damit für den effektiven Lernprozess der Schüler gar nicht unterrichtet.
Denn es zählt „ja die Methode, die sich am schnellsten erlernen lässt.“[74]
Wir können feststellen, dass „reformiertes WingTsun“ nicht mehr viel mit dem Wing Chun Ip Man´s, zu tun hat und das Verständnis der Kampfprinzipien ein völlig anderes ist. Das WingTsun ist innerhalb zweier Generationen von Ip Man über Leung Ting zu Herrn Kernspecht in eine komplett andere Richtung entwickelt worden.
Hinter dem Stil, den wir „Ip Man Wing Chun“ nennen, steht ein anderes Konzept, das den Schülern die Schlüssel für effektives Wing Chun in den Formen vermittelt. „Die Form ist der Lehrplan“ bedeutet, dass die Schlüssel für effektives Wing Chun innerhalb der Formen enthalten sind.
Das Verständnis der Kampfprinzipien im WingTsun basiert auf einem Missverständnis, das dazu führt, dass man unterschiedliche Strategien in unterschiedlichen Selbstverteidigungssituationen anwenden soll. Es wird eine Trennung von Prinzipien vorgenommen, die in einer praktischen Anwendung überhaupt keine Rolle spielen.
Wing Chun bleibt ein einfaches und effektives Selbstverteidigungssystem, welches es sogar innerhalb der rechtlichen Rahmenbedingungen ermöglicht, die „Verhältnismäßigkeit der Mittel“ beizubehalten, da das System die Fähigkeiten unterrichtet, einen Angreifer zu kontrollieren. Damit ist es auch nicht nötig, zwischen einer „proaktiven“ Handlungsweise (BlitzDefence in einem „Ritualkampf“) und einer „nachgebenden“ Handlungsweise (ReakTsun in einem „Überfall“) zu unterscheiden.
Denn „Ritualkampf“ oder „Überfall“ kann nicht vorher geplant werden, auch wenn Herr Kernspecht meint, innerhalb eines „Ritualkampfes“ dieses oder jene Verhalten eines Gegners voraussagen zu können. Für den Fall der Eskalation sollte dann der WingTsun-Anwender doch auf die fortgeschrittenen Konzepte zurückgreifen können, die der Anfänger, der „nur“ BlitzDefence kann, noch gar nicht kennt, aber für die es dann doch „5 oder 10, oder mehr Jahre“[75] braucht, um sie anzuwenden. Und wenn dann das Unterrichtskonzept vorsieht, mit dem Verweis auf das Hick´sche Gesetz, die Hälfte seiner Waffen (die zweite Hand) aufgrund der Spezialisierung wegzulassen, dann ist dies eine unzureichende Vorbereitung auf eine wirkliche Selbstverteidigungssituation.
Wenn das die Konsequenz aus BlitzDefence und ReakTsun ist, dann ist es in etwa so, als würde man zu einem Schwertkampf-Duell mit einer Steinschleuder erscheinen. Man hat nur einen Schuss zur Verfügung, der unbedingt treffen muss. Sollte der nicht treffen, dann entstehen große Probleme. Wenn Herr Kernspecht dann feststellt, dass das BlitzDefence technisch gesehen zwar sehr einfach ist, aber psychologisch sehr schwierig, dann kann man dem nur zustimmen. Allerdings sind dies selbstgemachte Schwierigkeiten innerhalb des Systems und der Lehrmethode.
Dies kann also nicht der Weg sein, ein an der „Realität orientiertes System“[76] zu entwickeln.
Die ursprüngliche Einfachheit des Ip Man Wing Chun ist im WingTsun zu einem System von „Partnerformen“ und „Programmen“ entwickelt worden, das den Lernprozess von Schülern künstlich verlängert, indem unnötige Bewegungsfolgen unterrichtet und theoretische Konzepte vermittelt werden, die mehr Verwirrung stiften als dass sie die „Komplexität der Selbstverteidigung“ reduzieren helfen.
Interessanterweise habe ich in meinem Unterricht Leute, die vom WT zu mir kommen und bisher hatte ich noch keinen Schüler, der umgekehrt vom Ip Man Wing Chun zum WingTsun wechselte.
In diesem Zusammenhang hilft nun auch nicht die Feststellung, dass tausende von Menschen dennoch WingTsun lernen. Denn allein die Größe der Organisation und das Gerede von: „Wer Erfolg hat, hat recht!“[77] ist – wissenschaftlich gesehen – kein Argument für die Qualität des WingTsun.
Das bedeutet, dass es für eine lange Zeit keinen wirklichen Vergleichsmaßstab zwischen den Systemen gegeben hat. Und scheinbar hat es bisher noch keiner in Angriff genommen, die Grundlagen der verschiedenen Wing Chun-Systeme zu untersuchen und zu vergleichen.
Denn wissenschaftlich gesehen ist jede Ausnahme von der Regel ein Beweis für eine fehlerhafte Theorie. Also müsste Herr Kernspecht in seinem Falle überprüfen, warum jemand außerhalb des WingTsun-Systems schneller und besser das vorher definierte Wing Chun-Ziel erreicht:
„Wing Chun als praktisches Mittel der Selbstverteidigung“ anzuwenden.
Am Ende des oben zitierten Artikels stellt der Herausgeber dieser Zeitschrift eine bemerkenswerte rhethorische Frage, die den Leser in die Richtung der „Reformierten“ ziehen soll, in dem er fragt:
„Und wie hielt es der verstorbene Großmeister Yip Man selbst?“[78]
Und gleich dazu die Antwort mitliefert:
„War er nicht selbst ein Reformer, der die von Chan Wah Sun in Fatshan erlernten Techniken durch die „alten“ Techniken Leung Biks verbesserte?“ Der Herausgeber
Herausgeber ist kein geringerer als Herr Kernspecht selbst. Um die Frage des Herausgebers zu beantworten:
Großmeister Ip Man hielt es selbst mit der „Aktiven“ Wendung auf beiden Hacken wie die „Traditionalisten“. Es wäre für Herrn Kernspecht und sein WingTsun wirklich hilfreich gewesen, sich auf die „alten“ Techniken Ip Man´s zu besinnen.
Dann könnte man den „richtigen Weg für 詠春 finden. So kann man 詠春 stärker machen und verbreiten.“[79]
Es wird nur eine Frage der Zeit sein, bis sich diese Einsicht herumgesprochen hat.
Sifu Horst Drescher
[1] Was nicht heißt, dass man sich der Vollständigkeit halber nicht auch mit anderen Konzepten und Systemen beschäftigen sollte. Aber die meisten der ansässigen WingTsun-Verbände sind aus der EWTO hervorgegangen und in deren Unterrichtskonzepten findet sich der Einfluss des von Herrn Kernspecht unterrichteten WingTsun. Je nachdem, in welcher Phase der Entwicklung des WingTsun einer der ehemaligen Schüler Herr Kernspechts sich aus der EWTO gelöst hat, und einen eigenen Verband etabliert hat, sind in diesen Verbänden die „traditionellen“ Programme ebenso noch vorhanden, wie „BlitzDefence“, Chi Kung. Etc. Die Vielfalt ist also recht groß und fast unüberschaubar. Gerade aus diesem Grund ist es einfacher, sich an die Aussagen Herrn Kernspechts als Wegbereiter des WT zu halten und anhand des WingTsun der EWTO die aktuellste Entwicklung zu beleuchten.
[2] Warum sollte Ip Man ein paar Tage eine Form auf einer Videoaufnahme für die Nachwelt hinterlassen, wenn die Form seines „closed-door-student“ die wahre Form gewesen ist, die er seinen anderen Schülern nicht gezeigt haben soll? Schwer nachzuvollziehen, wenn man ihm nicht unterstellen wollte, dass er die Nachwelt bewusst täuschen wollte. Seine beiden Söhne Ip Chun und Ip Ching praktizieren heute noch die erste Form in derselben Weise wie ihr Vater. Es ist also anzunehmen, dass die letzte bekannte Form Ip Man´s auch die ist, die er unterrichtete. Eine Kopie der Originalaufnahme ist mir von Samuel Kwok überlassen worden.
[3] In dem Interview auf Ihrer Homepage, dass die WT-Welt mit Leung Ting geführt hat…(leider nicht mehr auf der Homepage vorhanden.) Die Tatsache, dass Leung Ting „closed-door-student“ gewesen sein soll, bedeutet ja nicht folgerichtig, dass Ip Man seinen anderen Schülern die höchsten Prinzipien nicht vermittelt hat. Die Behauptung über die Kampftheorien, die „er streng für sich behalten hatte“, kann man nicht beweisen und auch nicht widerlegen. Es wird in der Literatur auch nicht erklärt, um welche „Kampftheorien“ es sich gehandelt haben soll. Von daher ist dies lediglich eine Behauptung, die man glauben kann oder es besser lässt. Es gibt keinen Beleg dafür. Und die Wing Chun-Praxis der Schüler Ip Man´s sprechen eine andere Sprache. Und es bedeutet auch nicht, dass Leung Ting automatisch besser in Wing Chun war und auch nicht, dass er ein besserer Lehrer ist. Es bedeutet lediglich, dass er als letzter Unterricht bei Ip Man gehabt haben soll.
[4] Kernspecht, Keith Ronald (Verf. Und Hrsg.): WingTsunWelt-Spezial Nr.1, Die Geschichte des Yip-Man-Wing Chun-Stiles, Wu Shu-Verlag 1993, im Artikel von Dr. Michael Klausdorfer: Leung Tings Weg vom Ving Tsun-Cheftrainer zum Oberhaupt des Wing Tsun (WT) –Systems, Seite 88.
Genau mit diesem Argument wurde das Wing Tsun als das ultimative System verkauft: Ip Man soll seinem letzten Schüler – und nur ihm – die allerletzten Erkenntnisse aus seinen eigenen Forschungen weitergegeben haben, die die anderen Schüler nicht mitbekommen haben, da sie an der späten Weiterentwicklung des Wing Chun nicht mehr beteiligt waren. Was allerdings widerlegt ist.
Und wenn dem so war, warum war es Herrn Kernspecht dann so wichtig, sich von dem „traditionellen“ Wing Chun (das nun in seiner Terminologie „klassisch“ geworden ist) zu lösen und „reformiertes Wing Chun“ zu betreiben? Geht es um das Reformieren um des Reformierens willen oder um das Bewahren der höchsten Prinzipien? Wenn das WT damals schon so gut gewesen ist, warum es dann wieder verändern?
[5] WingTsunWelt, Ausgabe 34, Seite 59
[6] WingTsunWelt, Ausgabe 34, Seite 59.
[7] Ebd.
[8] Kernspecht, Keith Ronald (Verf. Und Hrsg.): WingTsunWelt-Spezial Nr.1, Die Geschichte des Yip-Man-Wing Chun-Stiles, Wu Shu-Verlag 1993, Seite 90.
[9] Und nicht von dem Lehrer an dem Schüler, der die Wirkung der Techniken nicht überprüfen kann, weil er 1. noch gar nicht die Erfahrung hat, 2. Nicht das Wissen hat und 3. Viele Sifu´s ein Problem damit haben, wenn der Schüler sich wehrt bis hin zu der Forderung, man dürfe einen Sifu nicht anfassen, geschweige denn in einer Partnerübung treffen.
[10] Siehe weiter unten im Text.
[11] Siehe dazu auch das Video auf Youtube.de: Ausschnitte aus Großmeister Kernspechts Vortrag zur Prüfung zum Doktor der Wissenschaft Teil 1.
[12] Kernspecht, Keith Ronald: Vom Zweikampf, Strategie, Taktik, Physiologie, Psychologie, Philosophie und Geschichte der waffenlosen Selbstverteidigung, 7. Korrigierte und ergänzte Auflage, Wu Shu-Verlag 1998, S.10.
[13] Kernspecht, Keith Ronald: Vom Zweikampf, Strategie, Taktik, Physiologie, Psychologie, Philosophie und Geschichte der waffenlosen Selbstverteidigung, 7. Korrigierte und ergänzte Auflage, Wu Shu-Verlag 1998, S.10-11.
[14] Kann natürlich sein, dass in neueren Auflagen dieses Werks diese Definition nachgereicht wurde oder dies nur innerhalb der internen EWTO-Seminare behandelt wird. Dennoch hinterlässt es einen faden Beigeschmack, wenn etwas behauptet wird, was nicht belegt wird. Es findet ebenfalls von Herrn Kernspecht in dieser Aussage keine Diskussion der verschiedenen Zentrallinientheorien statt, die seine Aussage unterstützt. Insofern wird hier nur etwas mit er Absicht behauptet, andere Richtungen in ein falsches Licht zu setzen.
Wen es interessiert: Die vertikale Zentrallinie nach dem Verständnis des Ip Man Wing Chun verläuft im Zentrum der Drehachse des Körpers, d.h. sie liegt auf der Wirbelsäule!
[15] Kernspecht, Keith Ronald: Vom Zweikampf, Strategie, Taktik, Physiologie, Psychologie, Philosophie und Geschichte der waffenlosen Selbstverteidigung, 7. Korrigierte und ergänzte Auflage, Wu Shu-Verlag 1998, S.29
[16] Ebd., S.30
[17] Ebd., S. 30-31
[18] Ebd., S. 32
[19] Ebd., S. 33
[20] Ebd.
[21] WT-Welt 34, Seite 55
[22] Nach der Feststellung, dass das traditionelle Programm der EWTO den Schüler nicht wirklich dahin bringt, sich verteidigen zu können, habe ich zumindest nach 20 Jahren Nachdenken über das, was ich gelernt habe, endlich eine Antwort darauf bekommen, warum ich etwa 7 Jahre bis zum 1. Technikergrad trainiert habe (damals bedeutete dies Erlernen der Chum Kiu) und immer das Gefühl hatte, dass das WingTsun nicht funktioniert. Diese späte Einsicht Herr Kernspechts über seine Programme wird wohl auch dazu geführt haben, dass er unermüdlich versucht, neue Programme einzuführen, um sein WingTsun-System zu verbessern. Mein eigener Vergleich mit den unterschiedlichen System führte mich zu er Erkenntnis, dass es gar keinen Sinn macht, zwischen „Ritualkampf“ und „Überfall“ zu unterscheiden.
[23] WingTsun-Welt, Ausgabe 34, S. 55. Wie kann Herr Kernspecht wissen, wie in „traditionellen Schulen“ unterrichtet wird? Damit unterstellt er, dass in anderen Schulen und Systemen Wing Chun nicht für die Selbstverteidigung unterrichtet wird. Hier wird der Eindruck erweckt, dass es nur in der EWTO darum geht, WingTsun für die Selbstverteidigung zu machen. Aber das widerspricht der Aussage Herrn Kernspechts in demselben Interview ein paar Seiten weiter (Seite 59), wo er sagt: „Das andere ist WingTsun für WingTsun. Das machen wir weiter.“
[24] Die Erwähnung der „Altvorderen“ im WT ist interessant. Denn diese „Altvorderen“ sind nur Leung Ting und Herr Kernspecht selbst, der weiter oben zugibt, diese Programme, die er „traditionell“ nennt, mit Leung Ting zusammen entwickelt zu haben. Vorher hat es diese Programme gar nicht gegeben und er unterstellt, dass sich bis dato keiner wirklich Gedanken über das System gemacht hat. Wissenschaftliche Gründe für diese These nennt er keine, und er offenbart hier ebenfalls seine Unkenntnis über das Wing Chun Ip Man´s und andere Systeme. Die Kritik an den „traditionellen Schulen“ ist also wohl eher die – klug verpackte – Kritik an der eigenen Unterrichtsweise der vergangenen drei Jahrzehnte oder an Leung Ting, nachdem Herr Kernspecht sich mehr oder minder von ihm distanzierte.
[25] WingTsunWelt, Ausgabe 34, Seite 47
[26] WingTsun-Welt, Ausgabe 34, Seite 59.
[27] Als Beispiel gilt hier eine Geschichte aus dem Leben Ip Man´s. Sein Meisterschüler Wong Sheung Leung war auf einem Wettkampf und hatte einen Kampf verloren, in dem der Gegner ihn im Magen getroffen hatte. Nach dem Wettkampf war Wong zu Ip Man gegangen und hat ihm davon berichtet. Wong hatte Ip Man gefragt, ob er ihm erlauben würde, den sechsten Satz der Form um eine tiefe Gan Sao zu erweitern, die in der ursprünglicheren Form nicht enthalten war. Ip Man änderte daraufhin seine eigene Siu Lim Tao und Wong Sheung Leung praktizierte in seinem VT-System seitdem den sechsten Satz der Siu Lim Tao zweimal, einmal in der ursprünglichen Variante (Hohe Tan Sao, Jum Sao, Tan Sao, Huen Sao, Jeung Sao) und einmal in der neuen Variante (Hohe Tan Sao, Gan Sao, Tan Sao, Huen Sao, Jeung Sao). Bei manchen Schülern von Wong Sheung Leung kann man dies immer noch beobachten.
[28] Kwok, Samuel und Massengill, Tony: Mastering Wing Chun. The Keys to Ip Man´s Kung Fu.Los Angeles 2007. Siehe die Kapitel 5 – 8, Seite 57 – 244.
[29] WT-Welt, Ausgabe 35, Seite 47.
[30] WingTsunWelt, Ausgabe 34, Seite 61.
[31] Samuel Kwok hat in englischer Sprache eine Lehr-DVD mit dem Titel „The Keys to Wing Chun“ auf den Markt gebracht. Allerdings behandelt diese DVD längst nicht alle „Schlüssel“ zum System.
[32] Trevor Jefferson ist hier in Deutschland auch nicht wirklich bekannt. Er war der erste Meisterschüler Samuel Kwok´s und bekam seinen Meistertitel von Grandmaster Ip Chun.
[33] Wie Herr Kernspecht in seinem Interview auf die Frage: „Hat das auch etwas mit mentalem Fortschritt zu tun?“ antwortet: „Bestimmt. Wenn man das überhaupt trennen kann. Ist das nicht alles eins?“ WT-Welt, Ausgabe 35, Seite 47. Aber in demselben Interview nimmt er genau diese Trennung vor, von etwas, was nicht getrennt werden kann. Das ist der Kern des Problems des modernen WT – „Denn Sie wissen nicht, was Sie tun!“
[34] Vielleicht ist ja diese eklatante Unkenntnis für Herrn Kernspecht der Grund, am liebsten auf die Form verzichten zu wollen. Da er aber Leiter einer WT-Organisation ist, kann er „die WT-Formen – trotz notwendiger neuer wissenschaftlicher Programme – nicht sterben lassen. Vielleicht ist Herr Kernspecht bald so ehrlich und nennt sein „WT“ in „WP“ – „Wissenschaftliches Programm“ um, dann bräuchte er auch die Formen nicht mehr! Will er aber Wing Chun zu „Innerem WingTsun“ entwickeln, müsste er die Formen zunächst einmal verstanden haben!
[35] Das wäre zu vergleichen mit dem von mir oben angesprochenen „Reißverschluss“, in dem der erste Zahn leider nicht mehr in den nächsten greift. Will man ihn weiter schließen, dann ist es unerheblich, wie weit man ihn zuzieht, er schließt dennoch nicht!
[36] WT-Welt 29, Seite 30.
[37] Dies ist eine Feststellung, die ich leider am eigenen Leib erfahren habe, nachdem ich von 1992 bis 1999 WingTsun in Münster (Westf.) lernte und meine Ausbildung zum 1. Technikergrad absolvierte. Diese Feststellung treffe ich aufgrund meiner eigenen Erfahrung und dem direkten Vergleich meiner eigenen Ausbildungen und ebenso durch die wenigen Schüler, die mit einiger WT-Erfahrung in meinen Unterricht kommen und sich darüber wundern, was sie bisher nicht gelernt haben.
[38] WingTsunWelt, Ausgabe 35, Seite 47.
[39] Nein, auch diese Aussage stimmt nicht, aber die kann hier nicht weiter diskutiert werden. Nur weil in allen Wing Chun-Systemen ebenfalls Kettenfauststöße vorkommen, bedeutet es nicht, dass alle Wing Chun-Stile auch die im WT propagierte „Universallösung“ verwenden, um einen gegnerischen Angriff zuvorzukommen.
[40] Hier wird die Reihenfolge der Kampfprinzipien plötzlich umgedreht. Ich werde das weiter unten nochmal diskutieren.
[41] WingTsunWelt, Ausgabe 34, Seite 46
[42] WingTsunWelt, Ausgabe 34, Seite 47
[43] Siehe auch noch einmal die Kritik auf Seite 12.
[44] WingTsunWelt, Ausgabe 34, Seite 84
[45] Auslassungen vom Autor. Vollständiges Zitat siehe WingTsunWelt, Ausgabe 35, Seite 44-45.
[46] Ebd. Seite 45.
[47] Das Hicksche Gesetz, auch Hick-Hyman-Gesetz, geht auf William Edmund Hick zurück, der damit 1952 den Zusammenhang zwischen Reaktionszeit und Anzahl der Wahlmöglichkeiten beschrieben hat. (…) In einfacher Näherung kann angenommen werden, dass für jede Verdoppelung der Wahlmöglichkeiten in einem Experiment die Reaktionszeit um ca. 150 ms steigt. Ausführliche Beschreibung des Hick´schen Gesetzes auf: http://de.wikipedia.org/wiki/Hicksches_Gesetz
[48] WingTsunWelt, Ausgabe 35, Seite 45-46.
[49] WingTsunWelt, Ausgabe 34, Seite 83.
[50] WingTsunWelt, Ausgabe 34, Seite 83 – 84.
[51] Siehe auch: Feldenkrais, Moshe: Der Weg zum reifen Selbst. Phänomene menschlichen Verhaltens. 2. Auflage. Junfermann, Paderborn 2002 oder Feldenkrais, Moshe: Das starke Selbst. Anleitung zur Spontaneität, Frankfurt am Main, 1. Auflage 1992.
[52] WingTsunWelt, Ausgabe 35, Seite 53. Und wie bitte weiß man, wie lange ein „Ritualkampf“ nicht außer Kontrolle gerät?
[53] WingTsunWelt, Ausgabe 35, Seite 49-50.
[54] Siehe vollständige Passage in WingTsunWelt, Ausgabe 35, Seite 53
[55] Ein weiteres Argument gegen die Behauptung, die asiatischen Lehrer hätten über das Wing Chun und ihre Formen nicht nachgedacht.
[56] Welche in der WT-Form lediglich eine angedeutete Jut Sao ist, wenn die Arme aus Lan Sao nach vorne geklappt werden. Diese Bewegung hat keine praktische Bedeutung und funktioniert so auch nicht in irgendeiner Anwendung, da Jut Sao eine Rückwärtsbewegung beinhaltet und nicht vorwärts geht! Innerhalb der WT-Logik mag dieser Aspekt keine Rolle spielen, doch wenn hier behauptet wird, dass die Kampfprinzipien in den Formen des Ip Man Wing Chun enthalten sind, spielt die Ausführung einer Bewegung eine wichtige Rolle, damit sie anwendbar bleibt.
[57] Kwok, Samuel und Massengill, Tony: Traditional Wooden Dummy. Ip Man´s Wing Chun System. Empire Books, Los Angeles 2010, S. 79.
[58] Herr Kernspecht in seinem Interview, WingTsunWelt, Ausgabe 35, Seite 54.
[59] WingTsunWelt, Ausgabe 34, Seite 46
[60] Siehe vollständige Passage in WingTsunWelt, Ausgabe 35, Seite 54
[61] Ebd.
[62] Ebd.
[63] WingTsunWelt, Ausgabe 35, Seite 54.
[64] Die Theorie der Techniken im Wing Chun sagt jedoch, dass die Tritte alle in derselben Distanz wie die Fauststöße ausgeführt werden.
[65] WingTsunWelt, Ausgabe 34, Seite 62 ff.
[66] Po Kin Wah: Wohin geht 詠春? Über die Zukunft des 詠春 aus chinesicher Sicht. In: WingTsunWelt-Spezial Nr. 1, WuShu-Verlag Kernspecht 1993, S. 104 -107.
[67] WingTsunWelt-Spezial Nr. 1, WuShu-Verlag Kernspecht 1993, S. 107
[68] Dass diese Linie „vertikal durch die Mitte des Körpers verläuft“ ist nicht ganz korrekt definiert. Diese Linie verläuft genau vertikal durch die Wirbelsäule.
[69] Shaun Rawcliff: Die Zentrallinientheorie. In: Yip Mans Ving Tsun. Betrachtungen zum 100. Geburtstag von Großmeister Yip Man. Sensei Verlag Hirneise, 3. Erweiterte Deutsche Ausgabe, April 2000. S. 62 -65. (Anmerkung des Autors: Shawn Rawcliff ist Schüler von Grandmaster Ip Chun und war auch Schüler von Samuel Kwok.)
[70] Ebd., S. 64
[71] Die Tse M Seen ist eine gedachte Ebene, die die kürzeste Verbindung zwischen der Sick Jee des Angreifers und der Sick Jeen des Verteidiger darstellt. In der Theorie von Shawn Rawcliff gibt es auch noch die Chung Sum Seen, die allgemein als die „Zentrallinie“ des Körpers gesehen wird, auf der alle „lebenswichtigen Organe“ des Körpers liegen. Der Unterschied zwischen der Sik Jeen und der Chung Sum Seen ist also der, dass die Sik Jeen die mechanische Drehachse des Körpers ist und die Chung Sum Seen der Trefferbereich, der im Kampf anvisiert wird. Man müsste diskutieren, ob die Unterscheidung dieser beiden Linien in der Praxis wichtig ist oder nicht.
[72] WingTsunWelt-Spezial Nr. 1, WuShu-Verlag Kernspecht 1993, S. 107
[73] Ebd.
[74] Siehe weiter oben.
[75] Wie zuvor schon festgestellt.
[76] Siehe Zitat weiter oben.
[77] Kernspecht, Keith Ronald (Verf. Und Hrsg.): WingTsunWelt-Spezial Nr.1, Die Geschichte des Yip-Man-Wing Chun-Stiles, Wu Shu-Verlag 1993, Seite 89.
[78] WingTsunWelt-Spezial Nr. 1, WuShu-Verlag Kernspecht 1993, S. 107
[79] Ebd.