Wing Chun Dao

Wing Chun als Innere Kampfkunst!

Was andere noch "entwickeln" wollen, ist bereits fertig...

Die Zentrallinientheorie

Die Zentrallinientheorie nach Prof. Dr. Kernspecht

in „Die Essenz des Wing Tsun“ – Wu Shu Verlag 2014

Kernspecht behauptet:

Die Zentrallinie funktioniert am besten gegen gerade Angriffe, die es in der Welt da draußen nicht gibt.“

und stellt fest:

„Mir ist klar, dass die Zentrallinientheorie nur für den Umgang mit linearen Angriffen gelten kann und damit nur unter emotions-und adrenalinfreien Laborbedingungen, und das gilt für den Angreifer wie auch für uns selbst.  Weder der eine noch der andere ist unter Stress zu geraden Bewegungen fähig. Im Adrenalinrausch aber gibt unser Gegner uns keine gradlinigen Angriffe, selbst wenn wir es ihm in jahrelanger Arbeit vorher beigebracht hätten. Der Schöpfer der Theorie glaubte wohl nach bestem Wissen zu handeln, aber dies zeigt sich erst durch die Erfahrung.

[…]

In der Praxis funktioniert es, in der Theorie nicht.“ ????

Hier behauptet ein „Wissenschaftler“, der seit 50 Jahren Wing Tsun verkauft, dass das wichtigste Prinzip des Wing Chun –  die Zentrallinientheorie –  nur bei geradlinigen Angriffen anwendbar ist. Wenn Sie WingTsun als vollständiges und „komplettes System“ der Selbstverteidigung angeblich weiter entwickeln, dann sollten Sie sich die Theorie von den „zentralen Linien“ von Ihrem Sifu noch einmal richtig erklären lassen.

Sie haben festgestellt, dass „alles Wichtige in der ersten Unterrichtsstunde“ gelehrt wird. Das glaube ich Ihnen nicht, Herr Professor. Sie zitieren in Ihrer Essenz auf Seite 337 Leung Ting:

„Als er [GM Yip Man] mit mir gemeinsam die Holzpuppenform durchging, erklärte er mir die “ Zentrallinie-Theorie“ des WingTsun im Detail.“

Leung Ting, Roots, Seite 166

„Streng genommen konnte man ‚Opa‘ MAN kaum als einen wissenschaftlichen Kung Fu-Lehrer betrachten. Obwohl er sich die größte Mühe gab, mir zu entdecken, was es mit der Zentrallinien-Theorie auf sich hatte, konnte ich es damals nur ganz grob erahnen (vielleicht war ich nur zu begriffsstutzig?). Erst viele Jahre später beherrschte ich das ganze System der Zentrallinie-Theorie.“ Leung Ting, Roots, Seite 168

“ Großmeister Yip Man schob seine Arme (Man- & Wu Sao) stumm in Richtung der Lücke zwischen den oberen Puppenarm vor, als ich ihn nach der Zentrallinie fragte.“ Leung Ting, bei einem Seminar auf Video aufgenommen.“

Also, Ip Man erklärte während des  Holzpuppentrainings die Zentrallinien-Theorie im Detail,  und an anderer Stelle heißt es, er  gab sich die größte Mühe zu vermitteln, was es damit auf sich hatte und Leung Ting konnte nur „grob erahnen“.. Das würde mich stutzig machen, Herr Professor.

Sie schreiben weiter:

„Die gedeutete Yip Man´sche Zentrallinie

Als der verstorbene Großmeister Yip man von dem jungen Leung Ting nach der geheimnisvollen Zentrallinie gefragt wurde, führte ihn der alte Meister zur Holzpuppe und schob Man Sao und Wu Sao vor in Richtung der Lücke der beiden oberen Puppenarme, wobei er in Großmeister Leung Tings Richtung die bedeutungsschwangeren Worte gesagt haben soll: „Das ist die Zentrallinie!“

Wir hörten und lasen diese Geschichte in verschiedenen Varianten von Großmeister Leung Ting, aber wir wissen, dass wir Menschen uns nie an die wirklichen Ereignisse erinnern können, sondern nur an unsere letzten diesbezüglichen Erinnerung an die Ereignisse.

Insofern meine – nicht nur – ich von Sifu auf einem öffentlichen Lehrgang gehört zu haben, dass Yip Man gar kein Wort sagte, sondern nur stumm seinen Man-/WuSao zwischen die Puppenarme vorstieß. Sollte dieses wortlose, aber umso deutlichere Hindeuten die Wahrheit nicht viel besser gezeigt haben, als die späteren hilflosen Versuche seiner Schüler, mit sprachlich-logischen Spekulationen, die hinten und vorn nicht “ stimmig“ sind?

Hatte sich der alte Yip man, der ja eher als Konfuzianist beschrieben wird, der sprachfeindlichen Lehrweise des Zen-bzw. Chan-Buddhisten bedient? […]

Vielleicht wollte Yip Man gar nicht der „wissenschaftliche“ Kung Fu-Lehrer sein, den Leung Ting gerne gehabt hätte und selbst gern wäre? Aber können Biomechanik und Geometrie den inneren Kampfkünsten wirklich alle “ Geheimnisse“ entreißen?

Die Leung Ting´sche Zentrallinie: horizontal

Leung Ting leitete von dieser stummen Geste Yip Man’s die Ansicht ab, dass die mystische Zentrallinie eine horizontale, also nach vorn (!) führende Linie sein muss, die von unserer „Reißverschluss“-Linie (der oberflächlichen vertikalen Mittellinie) zu der „Reißverschluss“-Linie des Gegners führt.“

Herr Professor, also was ist es nun? Leung Ting behauptet, Yip Man hätte ihm die Zentrallinien- Theorie im Detail erklärt. Eine Erklärung im Detail setzt für mich tatsächlich voraus, dass die beiden sich unterhalten haben, denn ihr Lehrer schreibt ja selber, dass er Meister Ip Man tatsächlich gefragt hat. Und jetzt schreiben sie, dass Leung Ting aus einer stummen Geste sich selbst etwas abgeleitet hat. Eine selbst gemachte Ableitung über die Zentrallinie ist für mich ganz bestimmt etwas anderes als eine Erklärung im Detail. Einer von beiden, Sie oder Ihr Meister, sind sich wohl nicht darüber im klaren, was Ip Man tatsächlich über die Zentrallinie gesagt hat. Vielleicht war’s auch so, dass Leung Ting tatsächlich zu begriffsstutzig war. Immerhin hatte es ja einige Jahre gedauert, bis er „das gesamte System der Zentrallinien-Theorie beherrschte.“ So wie sie sagen, ist die Zentrallinie eine gedeutete, was für mich so viel bedeutet, dass die besagte Erklärung im Detail gar nicht stattgefunden hat. Und aus einer sich selbst „abgeleiteten Ansicht“, dass die Zentrallinie horizontal Richtung Solar Plexus zeigt, kommen Sie zu dem Schluß, dass die Zentrallinientheorie nur bedingt bei geraden Angriffen funktioniert.

Aufgrund einer Geste, die nicht kommentiert wurde, wurde eine Theorie, die eine horizontale Linie definiert. Sie stellen im weiteren die Frage, in welcher Höhe diese Linie verläuft und schreiben:

“ etwa in der Höhe, in der wir in der SNT-Form unseren zentralen Fauststoß beginnen. Ein kann den Ausgangspunkt ermitteln, indem man die vertikale Linie vom Scheitel bis zu dem tiefsten durch die Hände schützbaren Teilen nimmt und halbiert. Wenn beide Kämpfer gleich groß wären, verliefen diese Linie parallel zum Boden, der größte Unterschied gäbe es ein Gefälle.“

So so, Herr Professor. Die horizontale Zentrallinie verläuft zum SolarPlexus. (?)

Weiter heißt es bei Ihnen:

„Die Zentrallinie der traditionellen Stilrichtung: vertikal

Die anderen Wing Chun-Stile (die Traditionalisten) meinen, dass die Zentrallinie selbstverständlich eine vertikale sei, womöglich die nämliche, die ich gerade als “ Reißverschluss“-Linie, also als bloße Hilfslinie zur Ermittlung der Leung Ting´schen Zentrallinie einführte, also als jene oberflächliche vertikalen Linie, die den Körper in zwei gleiche Teile halbiert und an der viele verwundbare Stellen liegen.“

Herr Professor, Sie unterstellen, dass wir „Traditionalisten“ (da sie nun einmal alle anderen Wing Chun-Stilen meinen, fühle ich mich natürlich angesprochen) auf eine Hilfslinie zurückgreifen müssten, die in etwa der weiter unten benannten „Nase-zu-Nase-Linie“ entspricht , zeigt nur Ihre Unkenntnis darüber, was die Wing Chun-Formen über die Zentrallinie aussagen.

Sie schreiben weiter:

„Diese Linie, die aber nun von oben nach unten oder unten nach oben zu ziehen ist, würde unseren Fauststoß, der ihr nach dem Verständnis GM Leung Tings – sie tangierend – folgt, aber nicht nach vorn zum Gegner bringen. Damit könnte man sich nur selbst unters Kinn schlagen. Deshalb amüsierte sich mein Lehrer immer köstlich, wenn die Rede von den vertikalen „Zentrallinien“ der anderen Yip Man-Stilen war. „

Herr Professor, wenn sie nun unterstellen, dass der Fauststoß der vertikalen Zentrallinie zu folgen hätte, so dass man sich selbst unters Kinn schlägt, dann beweisen Sie damit nur ihre völlige Ignoranz und Unkenntnis davon, welche Funktion die vertikale Zentrallinie tatsächlich hat. Es kann aber auch sein, dass die von Leung Ting „abgeleitete Ansicht“ zu einem gewaltigen Missverständnis der Theorie geführt hat und er sie scheinbar ebenfalls im Unklaren darüber gelassen hat, was es mit der Zentrallinie auf sich hat.  Eine Erklärung im Detail kann ich bei Ihnen hier an dieser Stelle nicht finden, aber ich erinnere Sie an Ihre Worte auf der Homepage, dass „niemand außerhalb der LeungTing-Schule in der Lage ist, die Zentrallinie richtig zu definieren!“  So so…

Sie schreiben weiter:

„Ich selbst entwickelte Theorien, weshalb die meisten Schüler GM Yip Mans die Zentrallinie für eine vertikale hielten. Eine Idee war, dass ihr Denken durch das chinesische Zeichen für Zentrum, Mitte geprägt war und sie bei Zentrum, Mitte als erstes an die vertikale Linie dachten.

Übrigens:

was denn nun: horizontal oder vertikal? Oder gar beides?

Bis mir zu unserer Verwirrung mein Sifu auf einem öffentlichen Lehrgang genau diese vertikale Hilfslinie ebenfalls als „Zentrallinie“ bezeichnete.“

Also, wenn Ihr Sifu diese vertikale Hilfslinie ebenfalls als „Zentrallinie“ bezeichnete, dann hat er es wohl nicht verstanden. Die vertikale Zentrallinie ist die Linie, welche sie als „Dochtlinie“ bezeichnen, und verläuft auf der Rückseite des Körpers durch die Wirbelsäule.“

Bei Ihnen heißt es weiter:

„Wir dachten, wir hören nicht richtig. Auf mein hartnäckiges Insistieren räumte er dann ein, dass dies auch „die“ Zentrallinie sei. Aber wohin will uns diese Linie bringen? Hat sie eine Bedeutung für den Angriff oder für die Verteidigung? Ist sie vielleicht gar keine Linie, sondern eine Fläche, eine Scheibe zwischen mir und meinem Gegner? Wir waren völlig verwirrt.“

Um Ihre Frage zu beantworten: Diese Linie hat eine Bedeutung zunächst für die Verteidigung, weil die erste Regel der 1. Form (1. Satz der 1. Form) lautet, zunächst die eigene vertikale Linie zu schützen, danach erst die vertikale Linie – die zentrale Drehachse – auf der auch die vitalen Punkte des Körpers liegen – des Gegners angreifen (2. Satz in der 1. Form).

Die Reihenfolge dieser beiden Sätze der Siu Lim Tao, sind also nicht zufällig so angeordnet, dass die vertikale Zentrallinie in der Bewegung der beiden Hände nach unten zu Gan Sao und dann nach oben zu Tan Sao werden. Diese beiden Bewegungen definieren sowohl die vertikale Zentrallinie (weshalb man auch sehen kann, dass die Doppel TanSao im Leung Ting-Stil zu tief ist..) als auch die beiden „outer gates“, die Außenkante der Schultern als äußerste Linie des Bereiches, der in der Selbstverteidigung geschützt werden muss. 

Insofern haben Sie Recht, Herr Professor, wenn Sie feststellen:

„Offenbar gibt es für Chinesen verschiedene Linien der menschlichen Körper, die alle auf den Namen “ Zentrallinie“ hören, dann gibt es nicht “ die eine Zentrallinie“, sondern man könnte höchstens sagen, es gäbe “ verschiedene zentrale Linien“.

Die Schulter-Zentrallinien: bei der Wendung und beim Langstock

Es können aber auch Punkte zu Linien mutieren. Und dieses jedes Mal, wenn man sich wendet. Wer sich mit 45°-Wendung vom gegnerischen Angriff weg zum Gegner dreht, dessen Schulter, so Originalton meines Lehrers, werde zur Zentrallinie („becomes the Centre line“). Tatsächlich kursiert bei manchen Wing Chun-Stilen dafür der Begriff des „Schulterpfades“ (der aber nicht zu verwechseln ist mit der Schulterlinie beim Langstock).

Wenn ich auf Lehrgängen dolmetschen musste, übersetzte ich den Englisch gesprochenen Satz “ die Schulter wird zur Zentrallinie“ immer mit „die Zentrallinie wird mit der Schulter gebildet“, fallen mir zu einer Linie oder geraden (eigentlich “ Strecke“) ein 2. Punkt als Referenz zu gehören scheint.

Das Ziel?

Ja, aber wo liegt nun dieser zweite Punkt? Doch worauf zielt die Leung Ting´sche vorwärtsgerichtete Zentrallinie?

Wenn im Leung Ting-Stil die Zentrallinie definiert ist als “ shortest straight line between me and the opponent“ (als kürzester gerade zwischen mir und dem Gegner), muss unsere Zentrallinie zwangsläufig horizontal sein und auf einen Punkt beim Gegner gerichtet sein.

Aber vermutlich wollte GM Leung Ting gar nicht von der kürzeren Graden sprechen, sondern von der schnelleren Verbindung zwischen zwei Punkten. Und schon seit 1696, als Johann Bernoulli das Geheimnis der Brachistochrone (brachistos = griechisch kürzester; Kronos = Zeit) entdeckte, ist in der westlichen Wissenschaft bekannt, dass die schnellste Bahn zwischen zwei Punkten oft nicht die gerade, sondern die Kurve ist! Und zwar dann, wenn sie abschüssig ist, d.h. von einem höheren Punkt zu einem tieferen führt.

Also Herr Professor, wenn man weiß, dass der abwärts kurvig geschlagene Angriff die schnellere Verbindung ist, dann glaube ich, irren Sie. Um die höhere Geschwindigkeit zu kompensieren, muss ich als Verteidiger auf dem „kürzeren Weg“ bleiben und nicht ebenfalls versuchen, auf dem „schnelleren“ Weg zum Ziel zu kommen.

Sie scheinen gerade die „brachistochrone“ zu benutzen, um die altehrwürdige Zentrallinientheorie abzulösen. Nur, dass Sie damit dem WingTsun keinen Gefallen tun, wenn Sie aufgrund einer falschen Annahme das System mit dem Argument „auf den Kopf stellen“,  dass die Doppelmesserform fast ausschließlich nur kurvige Angriffe benutzt. Dies trägt dem Umstand Rechnung, dass die Messer für den bewaffneten Kampf gemacht sind, aber nicht ohne weiteres auf die waffenlosen Konzepte des Wing Chun übertragen werden sollten.

Sie stellen die Frage:

„Aber auf welchen Punkt ist die Linie der nun eigentlich gerichtet?

Etwa auf einen Punkt der gegnerischen “ Reißverschluss-Linie“? Also der „oberflächlichen“ vertikalen Mittellinie vielleicht? Und dann auf dessen Zentralpunkt auf der Hälfte der vertikalen Mittellinie? So haben es in der Tat manche falsch verstanden; denn was wird aus unserer prächtigen Zentrallinie, in der andere sich partout nicht in voller Breitseite zum Kampf stellen will wie einen WingTsun-Mann, sondern stattdessen eine seitliche Aufstellung nimmt?

Müsste da der Leung Ting-Stilist nicht um den anderen herumlaufen, weg von der sicheren Außenposition, mutig die Gefahr des gegnerischen Armes missachtend, um dann schwer aufatmend endlich wieder in der gefährlichsten Position angelangt zu sein, in die man sich begeben kann: zwischen die Arme des Gegners?

Um es auf die Spitze zu treiben: Dreht der Gegner sich um und bietet er uns herausfordernd sein Rücken der dürfte man dieses Angebot, so verlockend es auch erscheint, nicht annehmen. Stattdessen müsste man wieder mit dem Umrunden des Gegners beginnen, damit beide Zentrallinie, die unsere und die des anderen (bei gleicher Größe versteht sich) wieder deckungsgleich sind.

Offenbar gingen die WingTsun-Leute (“ inzüchtig“ wie die anderen Kampfkünste) davon aus, dass es sich beim Gegner grundsätzlich um jemand handelt, der wie im WingTsun üblich, eine stets frontale Kampfhaltung favorisiert.“

Nein, Herr Professor. Ihre Argumente basieren auf dem Missverständnis, dass die Zentrallinie auf der Körpervorderseite zu sein habe und unterstellen stillschweigend, dass andere den Fehler machen, davon auszugehen, dass man dem Gegner immer frontal gegenüber stehen müsse.

Aufgrund dieses Missverständnisses kommen Sie zu dem Schluss, dass die Zentrallinientheorie gegen Schwinger, Haken und kurvige Angriffe nicht funktioniert.   Weiter führen Sie aus:

„Unsere Überlegungen gehen wohlgemerkt immer von der WT-Interpretation aus, dass unsere (!) Zentrallinie diejenige ist, auf der wir unseren gradlinigen Angriff zum anderen bringen. Unser Motto müsste dann lauten: “ Greife den Gegner entlang deiner (!) Zentrallinie an.“ Übrigens darf dann aber nicht die Faust der Zentrallinie Folgen, sonst kann der andere jederzeit unseren Kopf treffen, denn dann  wären wir nicht geschützt. Die einzige Lösung wäre es, mit dem tiefen Ellenbogen die Zentrallinie zu tangieren, um mit aufsteigender Faust, von unten nach oben also, zustoßen dann wären wir durch unsere Faust geschützt.“

Herr Professor, ihre erste Aussage ist nicht korrekt.  Die WT-Interpretation, dass die eigene Zentrallinie diejenige ist, auf der „wir unseren geradlinigen Angriff zum anderen bringen“ müssen, ist nicht praktikabel. Es kann ja immer einmal sein, dass man den Gegner gerade nicht ansieht, oder der Gegner sich bewegt, um mich herum läuft etc. Dann kann ich nicht einfach davon ausgehen, dass ich in die Richtung schlage, in die ich gerade gucke oder in die ich mich gerade bewege. Das Ziel ist die Halswirbelsäule des Gegners, d.h. ich muss mich dementsprechend zum Gegner ausrichten, wenn ich mich selbst gegen Angriffe des Gegners schützen will.

Dass dann die Faust nicht der Zentrallinie folgen sollte, ist eine richtige Feststellung Herr Professor. Die einzige Lösung, die sie vorschlagen, ist als Schlussfolgerung im ersten Teil falsch, im zweiten Teil korrekt: „mit dem tiefen Ellbogen die Zentrallinie zu tangieren“, widerspricht ihrer Feststellung, dass die „Faust der Zentrallinie nicht folgen sollte, da der andere jederzeit unseren Kopf treffen“ könnte.

Mit dem Ellbogen die Zentrallinie zu tangieren, bedeutet dasselbe, dass die die Faust der Zentrallinie folgt. Dieses Konzept des „Innenfauststoßes“ wurde jahrzehntelang als „Keilprinzip“ praktiziert und wird es heute immer noch.  Allerdings ist diese Lösung biomechanisch gesehen nicht optimal, da der gerade Fauststoß mit tiefem Ellbogen einfach zu schwach ist. Die Struktur stimmt nicht.

Ihre zweite Feststellung: „um mit aufsteigender Faust, von unten nach oben also, zu stoßen, dann wären wir durch unsere Faust geschützt“, ist korrekt in dem Sinne, dass die „Vorwärts-Aufwärtsbewegung“ diejenige ist, die durch den isolierten Fauststoß im 2. Satz der 1. Form als Prinzipienlehre angedeutet ist.

Insofern sind Sie dem ursprünglichen Wing Chun schon etwas näher gekommen, wenn Sie schreiben:

„Lautet das Motto der traditionellen anderen WingTsun-Schulen aber “ Greife die Zentrallinie an“, dann meinen sie die zentrale Linie beim Gegner und die “ Zentrallinie“ ist für sie die Linie, auf der sich links und rechts die gefährdeten Körperteile befinden. Dann macht es für sie durchaus Sinn, dass sie „ihre Zentrallinie“ vertikal ansiedeln.“

In der ersten Form wird nach dem Stand diese vertikale Linie als Erstes unterrichtet, als Zweites die vorwärts-aufwärtsgerichtete Linie, die dem Verlauf einer geraden Bewegung aus einem entspannten Zustand ( nicht der Form) auf die Halswirbelsäule des Gegners entspricht. Die 1. Form ist ein Konzept, aus der man Anwendungen ableiten kann. Aber für sich genommen, kann man mit der 1. Form nichts anfangen.

Wenn ich mich schützen wollte, müsste man das Konzept „Vorwärts-Aufwärts“ kombinieren mit „Wenden des Körpers um die Zentralachse bis zur outer gate, also bis zur Schulterlinie des Gegners“ aus der Biu Gee (bitte nicht zu verwechseln mit der „passiven“ Rückwärtswendung mit der kompletten Gewichtsverlagerung auf das hintere Bein nach Leung Ting und anderen „Reformern“) und der Theorie aus der Holzpuppenform, in der es überhaupt keinen Fauststoß zum Kopf gibt.

Wenn also eine Bewegung auf die Zentrallinie die Schutzfunktion vollständig erfüllt, Herr Professor ist es nicht die „einzige Lösung“, mit „dem tiefen Ellbogen die Zentrallinie zu tangieren, um mit aufsteigender Faust, von unten nach oben also, zustoßen“, sondern mit

einer Wendung (auf der Hacke um die vertikale Achse herum ohne Gewichtsverlagerung nach hinten) um etwa 5-10 Grad (und nicht 45 Grad, wie Sie behaupten, was bedeuten würde, dass der Körperschwerpunkt sich nach hinten bewegt und der Schwinger treffen würde)  und einen „Vorwärts-Aufwärts“-gerichteten Handflächenstoß.

Sie können das gerne einmal selber ausprobieren, aber um das zu verstehen, braucht man schon das Wissen um die korrekte Zentrallinie und das Wissen um die Zusammenhänge der Prinzipienlehre aus den Formen, Herr Professor. Und dann hat man

1. das leidige „Schwingerproblem“ gelöst und

2. Ihre fragwürdige Behauptung widerlegt, die Zentrallinientheorie funktioniere nicht bei kurvigen Angriffen.

 Sie fragen weiter:

„Gibt es vielleicht zwei verschiedene Linien:

eine, entlang der man angreift, und

eine zweite, auf die man zielt?

Damit wir nun nicht bis ans Ende unserer Tage aneinander vorbeireden oder vorbeischlagen, schlage ich vor, in Zukunft von „der horizontalen zentralen Angriffs-Linie“ zu sprechen oder „der vertikalen zentralen Treff-Linie“ mit den verwundbaren Stellen oder gleich von dem, was ich „Dochtlinie“ nenne, damit wir auch die Seite und den Rücken des Gegners angreifen dürfen.“

Nein, warum sollte ich das Zielen und das Angreifen voneinander trennen? Das ist Blödsinn. Wenn ich irgendwo hin ziele, und voraus gesetzt, ich weiß, wohin ich ziele und warum, dann ist es nicht praktikabel, woanders hinzuschlagen als zu meinem Ziel. Keine Kanone dieser Welt schießt woanders hin als auf das Ziel, wohin das Zielfernrohr ausgerichtet ist, vorausgesetzt, das Ding ist richtig eingestellt.

Aber weiter zu Ihnen. Bei Ihnen heißt es dann weiter:

„Die „Nase-zu-Nase-Linie“: gegen Schwinger

Was aber ist, wenn der Gegner mit einem Schwinger angreift?

Dann ist uns das ganze Gewese um horizontale oder vertikale Zentrallinie so “ schnuppe“, dass wir sie durch die “ Nasenlinie“ ersetzen, die gerade, die unsere Nasenspitze mit der Nasenspitze des anderen verbindet.

Man muss halt flexibel sein, besonders im WT, dann kann man seinen Solar Plexus im Nu in eine Schulter oder sogar eine Nasenspitze verwandeln.

Die Tatsache, dass der Sola Plexus oder die Schulter plötzlich durch eine wilde Nasenspitzen-Zentrallinien-Theorie ersetzt wird, zeigt, dass in den Erklärungsversuchen weniger Wissenschaftlichkeit zu finden ist, als man hinein geheimnissen will.“

 Die „Nase-zu-Nase-Linie“: gegen Schwinger, die sie als nächstes ansprechen, Herr Professor, kann man getrost weg  lassen, weil sie demselben  Missverständnis wie die „Reissverschluss-Linie“ folgt. „Nase-zu-Nase“ zielt auf die Oberfläche. Wenn man dann noch – wie Sie das tun – die „horizontale Zentrallinie“ voraussetzt, dann ist es nicht weiter verwunderlich, dass Sie behaupten, das die Zentrallinie gegen Schwinger und andere kurvige Angriffe nicht funktioniert.

Ich glaube schon, dass Ip Man die Zentrallinientheorie tatsächlich verstanden hatte und wusste, warum sie als wesentliches Konzept für die WingChun-Bewegungen so grundlegend ist. Wenn wir nun gesehen haben, dass Sie sie nicht verstanden haben, dann ist es auch klar, weshalb Sie zum einen zu einer falschen Schlussfolgerung kommen und zum anderen Ihre eigenen WT-Bewegungen immer mehr „unspezifisch“ werden lassen. Ihr WT, Herr Professor wird immer beliebiger.

Sie klassifizieren mittlerweile Wing Tsun in exoterisch, mesoterisch oder esoterisch. Für Ihr neues „inneres WT“ müssten wir nun eine neue Kategorie erfinden: „ätherisch“!

Sie kommen zu dem Schluss:

Die Zentrallinie funktioniert am besten gegen gerade Angriffe, die es in der Welt da draußen nicht gibt.“

und stellen fest:

„Mir ist klar, dass die Zentrallinientheorie nur für den Umgang mit linearen Angriffen gelten kann und damit nur unter emotions-und adrenalinfreien Laborbedingungen, und das gilt für den Angreifer wie auch für uns selbst.  Weder der eine noch der andere ist unter Stress zu geraden Bewegungen fähig. Im Adrenalinrausch aber gibt unser Gegner uns keine gradlinigen Angriffe, selbst wenn wir es ihm in jahrelanger Arbeit vorher beigebracht hätten. Der Schöpfer der Theorie glaubte wohl nach bestem Wissen zu handeln, aber dies zeigt sich erst durch die Erfahrung.

[…]

In der Praxis funktioniert es, in der Theorie nicht.“

Wenn dem so wäre, wie Herr Professor behauptet, hätte es Wing Chun gar nicht als eigenständige Kampfkunst geschafft. Selbst die Chinesen in Hong Kong glauben nicht, dass sich einer daran hält, genau das zu tun, was der Verteidiger erwartet.

Und wenn Sie Kernspecht behauptet, man sei nicht in der Lage, unter Adrenalin eine geradlinige Bewegung auszuführen, dann bräuchte man in seinem Unterrichtsprogramm bestimmt auch keine speziellen Übungen, um den Puls zu senken.

Sicher erfordert es ein hohes Maß an willkürlicher Kontrolle, aber die ergibt sich aus dem Training einer Kampfkunst. Kernspecht geht eher den Weg, diese Problematik weg zu definieren durch die Behauptung, die Zentrallinientheorie funktioniere nur unter Laborbedingungen.

WT wäre besser, wenn Sie die Zentrallinientheorie auch praktizieren würden.

Kernspecht schreibt:

„Es sind also Leute gefragt, die das, was wir machen, allgemein verständlich und ohne zu viele Ausnahmen erklären können.“

Ich hoffe, ich konnte ein wenig dazu beisteuern, Herr Professor.

Die von Kernspecht  „reduzierte Zentrallinie“, wie ich sie einmal nennen möchte, von der Kernspecht behauptet, sie würde nur bei geradlinigen Angriffen funktionieren, die es in der Welt da draußen nicht gibt, ist eine Karikatur.

Wie wäre Wing Chun denn wohl anzuwenden, wenn es diese für das Wing Chun-System allerwichtigste Theorie nicht gäbe?

Was hat den Wing Chun so populär gemacht? Hat Kernspecht nicht die „Universallösung“ mit Kettenfauststößen auf die Zentrallinie als „Wundermittel“ propagiert?

Für Kernspecht mittlerweile überholt..

 WT wird  plötzlich kurvig und die „Brachistochrone“ von Johann Bernoulli aus dem Mittelalter wird zitiert, um Unstimmigkeiten – wohl besser Unwissenheit – im WT weg zu definieren.