Was andere noch "entwickeln" wollen, ist bereits fertig...
Der Wing Chun-Stil wurde in den 60er und 70er Jahren im Westen bekannt, in England vielleicht noch etwas früher als im Rest Europas. Als Wing Chun sich in organisierter Form in dem ersten großen Verband in der Kampfkunstwelt einen Namen machte, wurde es unter anderer Schreibweise als der „ursprüngliche“ Kampfstil Bruce Lee´s propagiert. Und dies geschau auch mit dem nicht gerade bescheidenen Anspruch, dass Wing Chun ein „wissenschaftliches“ System sei. Siehe dazu die sowie die älteren als auch die neuesten Publikationen von Keith R. Kernspecht: Vom Zweikampf, Wu Shu Verlag.
Ebenfalls wurde Wing Chun auch damit populär gemacht, dass der „effektivste“ Stil auch sehr einfach zu erlernen sei. Grandmaster Samuel Kwok schreibt in einer seiner Publikation (Mastering Wing Chun, Empire Books, Los Angeles 2007, 1. Auflage, Seite 20):
We use the word “system” on purpose. A system is something that can be defined. It has a specific set of components which are consistent. According to various dictionaries, a system is “an organized set of doctrines, ideas, or principles usually intended to explain the arrangement or working of a systematic whole.” So as you can see, in order to be a system, there must be well defined boundaries and components which comprise the “unified whole.” There must be a standard by which the “system” is performed.“
„Wir benutzen das Wort „System“ mit einer bestimmten Absicht. Ein System ist etwas, dass definiert werden kann. Es hat eine bestimmte Anzahl von Komponenten, die konsistent sind. Übereinstimmend mit verschiedenen Wörterbüchern ist ein System „ein organisiertes Set von Lehrsätzen, Ideen oder Prinzipien, die gewöhnlich dazu dienen, die Anordnung oder Funktionsweise eines systematischen Ganzen zu erklären“. Wie man sehen kann, muss es, um ein System zu erhalten, wohl definierte Grenzen und Komponenten geben, die das „vereinigte Ganze“ beschreiben. Es muss einen Standard geben, durch den das „System“ gebildet wird.“ (Übersetzung ins Deutsche von Sifu Horst Drescher)
Das hierzulande am weitesten verbreitete Wing Chun – in all den unterschiedlichen Schreibweisen – geht zurück auf die Systematik, die Grandmaster Ip Man in Hong Kong entwickelt hatte:
Ein Set von 6 Formen, die in den unterschiedlichsten Variationen in den einzelnen Schulen unterrichtet werden:
Siu Lim Tao, Chum Kiu, Muk Yan Chong (Wooden Dummy oder Holzpuppe), Biu Gee, Luk Dim Boon Kwun (Langstock) und Baat Cham Dao (Doppelmesser). In manchen Schulen und Verbänden wird die Reihenfolge dieser Formen bei Holzpuppe und Biu Gee umgedreht, da wird die Biu Gee vor der Holzpuppenform unterrichtet Dies kann damit zusammen hängen, dass man annimmt, dass die 3 waffenlosen Formen ursprünglich eine lange Form war, die nachträglich unterteilt wurde, um sie leichter erlernbar zu machen.
Dies entspricht aber wohl nicht der ursprünglichen Reihenfolge, wie Ip Man sie unterrichtete. Es wird im Wing Chun eher davon gesprochen, dass die Biu Gee „nicht vor die Tür“ geht, und nur hinter verschlossenen Türen an einige wenige fortgeschrittene Schüler weiter gegeben wurde. Somit ist es wahrscheinlicher, dass mehrere Schüler zunächst die Holzpuppe erlernt haben, und die Biu Gee nicht. Ein berühmtes Beispiel dafür war Bruce Lee, von dem es Aufnahmen an der Holzpuppe gibt, aber den Rest des Systems nicht gelernt hatte.
Es ist wohl bekannt, dass Ip Man selbst die Formen seiner Meister verändert hatte, aber wir kennen eigentlich nur die Version der Formen, die Ip Man öffentlich unterrichtete. Welche Elemente er selbst verändert hat und wie die Wing Chun-Formen aussahen, die er gelernt hatte, ist nicht überliefert.
Insofern ist das Wing Chun in seiner heutigen Vielfalt ein sehr junges Kampfsystem. Und die Logik des Systems findet sich in den Formen als Lehrplan, die in Ihrer Anordnung nicht zufällig ist. Der Aufbau der Formen entspricht der Regel:
1. vom Einfachen zum Komplexen: In diesem Sinne ist die Reihenfolge der Formen auch keine zufällige: In der ersten Form werden zunächst nur der Stand und die wichtigsten Handbewegungen isoliert erlernt, danach folgen dann die Schrittarbeit in der Chum Kiu, die weiteren Fußtechniken in der Holzpuppenform usw… In dieser methodischen Reihenfolge ist der Lernweg für Schüler kürzer, als wenn sie versuchten, Wing Chun anders zu lernen.
2. vom Stehen zum Laufen: In der Selbstverteidigung geht es um die Auseinandersetzung mit einem beweglichen Gegner, dessen Absichten meist nicht bekannt sind, d.h. die ganze Kampfsituation ist nicht planbar und ebenso wenig statisch. So lernt man im Wing Chun zunächst das Stehen, das Wenden auf der Stelle (Chum Kiu 1.Teil), einen Seitwärtsschritt (Chum Kiu Teil 2) und einen Vorwärtsschritt (Chum Kiu Teil 3). Diese Elemente werden dann zu einem Zirkelschritt (Holzpuppe) und dann den speziellen Stand in der Biu Gee, wenn die Distanz zum Gegner für Fußtritte oder Ausweichschritte zu klein ist. Erst dann lernt man Rückwärtsschritte (Doppelmesserform), die es ermöglich, einem Gegner auszuweichen, wenn er einen auf engstem Raum bedrängt. Streng genommen sind erst nach der letzten Form alle Möglichkeiten der Schrittarbeit im Wing Chun vollständig erarbeitet worden.
3. von der langen Distanz in die kurze Distanz:
In der Siu Lim Tao lernt man nicht wirklich kämpfen, die erste Form beinhaltet aber bereits die grundlegendsten Prinzipien der Selbstverteidigung, auf denen alle anderen Formen aufbauen.
In der Chum Kiu finden sich die ersten Schritte, was bedeutet, dass auch in dieser Form die Erklärung für die verschiedensten Distanzen zu finden ist. Der Aufbau der zweiten Form beinhaltet die Wege, wie man aus der sog. „langen Distanz“ durch die „mittlere Distanz“ in die „kurze Distanz“ kommt, um die Kontrolle über einen Gegner zu erlangen. Die Holzpuppenform beinhaltet in der Fortsetzung dann die „Anwendungen“ und „Kombinationen“ in der sog. „mittleren Distanz“, in der der Einsatz der Fußtritte eine wesentliche Rolle spielen.
Die Biu Gee-Form beinhaltet fast gar keine Schritte mehr, was nur dadurch erklärbar wird, dass die Distanz zum Gegner in der „kurzen Distanz“ bereits so klein ist, dass keine Schritte mehr nötig sind. Dafür stehen in dieser Form die Ellbogen im Mittelpunkt, die typische Waffe für die kurze Distanz. Um in diese Distanz hineinkommen zu können, muss man wissen, wie man aus dem Stand den Kontakt zum Gegner findet (siehe Punkt 2).
Dies ist das wichtigste Argument dafür, dass die Biu Gee erst nach der Holzpuppenform unterrichtet wurde und weiterhin werden sollte.
4. von „isolierter Bewegung“ zu „kombinierter Bewegung“. Die erste Form beinhaltet nur einfache Handbewegungen ohne jegliche Schrittarbeit. In dem mittleren Teil der Form werden synchrone Handbewegungen ausgeführt, die jedoch auch als „isolierte“ Bewegungen gesehen werden können. In der zweiten Form werden dann „gegensätzliche Bewegungen“ ausgeführt, die sich aus den Einzelbewegungen der ersten Form zusammensetzen. In der Holzpuppenform kommen dann Bewegungen vor, die gleichzeitig mit den Fußtritten kombiniert werden. Koordinatorisch wieder eine anspruchsvollere Aufgabe als in der Form zuvor.
5. von „langen Wegen“ zu „kurzen Wegen“: Master Trevor Jefferson benutzt die Form als Erklärungsmodell für die biomechanischen Aspekte einer optimierten Bewegung. Da in der Selbstverteidigung ein Höchstmaß an Ökonomie der eigenen Bewegung erzielt werden soll, muss das Wing Chun-System ja auch eine Antwort darauf geben können, wie diese Ökonomie erzielt werden kann. Das Ziel in der Entwicklung der eigenen Selbstverteidigungsfähigkeit und ein Zugewinn an Zeit in einer Aktion kann nur erreicht werden, wenn die Form benutzt wird, um die eigenen Bewegungen zu perfektionieren. Dass die „Wege“ der Bewegungen kürzer werden, hat damit zu tun, dass jede Bewegung nicht mehr als „starren Technik“ ( in dem Sinne wie: das hab ich doch in der Form gelernt), sondern situationsgemäß von ihrer Funktion her betrachtet wird. Die von Keith Kernspecht postulierte „Formlosigkeit“ ist bereits im Wing Chun-System enthalten. Dies funktioniert aber nur in Verbindung mit
6. von „isolierter Kraft“ zu „ganzheitlicher Kraft“: Die Entwicklung einer dynamischen, explosiven Technik wird im Wing Chun mit „Ging“ bezeichnet. Im Tai Chi wird oft die Bezeichnung „Fa Jing“ benutzt. Wenn jemand durch langjähriges Training der Formen die Fähigkeit entwickelt, jede Bewegung durch perfekt koordiniertes Anspannen aller beteiligten Körperteile punktgenau – beim Kontakt mit dem Angreifer) auszuführen, dann muss eine Bewegung nicht mehr wie eine Bewegung aus der Form aussehen. Die Bewegung folgt dem „kurzen Weg“ oder ist zum Teil fast nicht mehr sichtbar, wenn alle Körperteile perfekt koordiniert sind und in Angriff und Verteidigung zusammenspielen. Aber die entsprechende Energie kommt aus dem Training der „langen Wege“ (siehe Punkt 5). Aber dies geht einher mit der Entwicklung von „Ging“, denn sonst wäre dieser Aspekt nicht anwendbar.
7. von „außen“ nach „innen“: Die Entwicklung der Technik im Wing Chun folgt also von den „äußeren“ Formen hin zu ihrer „inneren Kraft“. Die Entwicklung eines Bewußtseins für die korrekte Körpermechanik beginnt bei den Formen, geht über das kontrollierte Partnertraining (z.B. Chi Sao) und endet in der freien Anwendung des Gelernten im Kampf. Die Anwendung der Bewegungen im Wing Chun setzen ein hoch entwickeltes Maß an Körpergefühl voraus, da man damit auf engstem Raum agieren und reagieren soll.
Die oben genannten Punkte ergeben sich aus der Analyse der Wing Chun-Formen und sollen dem Anspruch des Wing Chun-Systems gerecht werden, ein „wissenschaftliches System“ zu sein.
Dieses sich zu erarbeiten kann wiederum nur im „praktischen Experiment“ des Trainings geschehen, da uns von Ip Man nur das „System“ mit dem bekannten Aufbau der Formen überliefert wurde.
Aber das in den Formen vorhandene Wissen muss immer wieder neu entdeckt und in unserer heutigen Generation auf den Einzelnen übertragen werden, damit es anwendbar wird.