Was andere noch "entwickeln" wollen, ist bereits fertig...
Was ist Chi Sao
Was ist das Besondere an Wing Chun?
Für mich ist es Chi Sao. Chi Sao ist der Teil des gesamten Wing Chun, der eine lebendige Verbindung zwischen den einzelnen Teilen schaftft, ohne die es bedeutungslos wäre.
Die Formen lehren uns den Weg, sie sind also das Grundkonzept und die Bewegungslehre. In den Formen sind die Grundprinzipien des Wing Chun enthalten und in den Formen lernen wir, wie wir Energie in unserem Körper produzieren und die verschiedenen Wege und Richtungen, auf denen wir diese Energie benutzen können.
Neben den Formen gibt es Partnerübungen und konkrete Anwendungen, in denen die Prinzipien angewendet werden soll. Als wichtigste und ausführlichste Partnerübung gibt es „Chi Sao“ – die „Klebenden Hände“ oder auch manchmal „Talking Hands“ oder die „Brückenhände“ bezeichnet.
Chi Sao ist keine feste Form. Chi Sao ist kein Sparring!
Viele machen beim Wing Chun lernen den Fehler, Chi Sao auf dieser Stufe wie normales Sparring zu betrachten, und trainieren Chi Sao mit der Absicht, sich gegenseitig umzuhauen.
Andere glauben wiederum , „Chi Sao“ ist was „Weiches“ für das „Gefühl“, was man im „Ernstfall“ eh nicht anwenden kann. Dafür gibt es dann wieder das „Sparring“, in dem man sich beweisen kann.
Beide Ansichten sind Missverständnisse über das Chi Sao und seine Stellung im Gesamtsystem.
Chi Sao ist die Methode, durch die wir das Kämpfen verstehen. Man sagt traditionelllerweise: „Chi Sao ist die Brücke zwischen der Form, und dem realem Kampf! Die Formen bereiten uns auf das Chi Sao vor, das uns auf das Kämpfen vorbereitet.
Traditionellerweise wird Chi Sao in fünf einfachen Stufen unterrichtet: Einarmig (Dan Chi Sao), beidarmig (Poon Sao), dann mit drei unterschiedlichen Wegen der Kraft (Lap Sao), den sog. Einstiegstechniken („Faan Sao“ oder die „nachfolgenden Hände) und dann der Freikampf (Go Sao oder Kuo Sao).
Jede Stufe geht einher mit der entsprechenden Form, so dass der Lernfortschritt stufenweise und systematisch erfolgt. Diese Methode ist ein wesentlicher Grund dafür, dass man Wing Chun relativ schnell erlernt und relativ schnell auf ein anwendbares Niveau gegen den „normalen Straßenschläger“ bringt!
Wir beginnen mit der Praxis des Chi Sao zuerst, wenn wir die Siu Lim Tao lernen. Dies beginnt mit Dan Chi Sao, oder einarmigen Klebenden Händen, um die Saat oder die Fundamente des Wing Chun zu entwickeln, um Bong Sao, Tan Sao und Fook Sao zu verstehen. Dan Chi ist die Einführungsübung für Sensitiviät, um eher die Änderungen im Arm des Gegners zu fühlen als zu sehen, zusammen mit dem Bong Sao und Lap Sao-Drill, die uns den Gebrauch der Energie in einer defensiven und offensiven Weise lehren.
Durch Chum Kiu lernen wir sowohl die Schritte als auch die Wendung, den Gebrauch der Hüfte und Oberkörper um Energie für Angriff und Abwehr zu erzeugen. Die Holzpuppe befähigt uns, die Energie der Wendung und die gelernte Fußarbeit aus Chum Kiu und Biu Gee anzuwenden, z.B. den halben Zirkelschritt.
Die Fußarbeit des Wing Chun wird oft missverstanden weil sie nicht so offensichtlich ist wie in anderen Kampfkünsten, sie ist essentiell, um die Verbindung zu haben zwischen den Boden und dem Kontaktpunkt, wenn die richtige Energie geübt und angewendet wird.
Wenn wir gelernt haben, die Energien gegen ein festes widerstehendes Objekt, die Holzpuppe, anzuwenden und beginnen, uns natürlich um die Holzpuppe zu bewegen, mit Wendung und dem Gebrauch der Standenergie, dann können wir beginnen, dieses Wissen in Chi Sao anzuwenden.
In der Biu Gee lernen wir, wie verschieden gerichtete Energien zusammen mit der Energie der Huen Ma –Wendung aus der Chum Kiu verwenden. Nach dem Schließen – oder Überbrücken – der Distanz zwischen Dir und deinem Gegner lehrt uns Chi Sao die Benutzung von Kontrolltechniken – wie Gum Sao, Doppelte Lap Sao-, um in eine Position zu kommen, in der abhängig von der Entfernung und Situation mit Fingern, Handfläche oder Ellbogen angegriffen werden kann.
Das Schließen der Distanz erfolgt mit sogenannten „Entry techniques“ oder „Eingangstechniken“ und der Benutzung von Man Sao – angefangen von keinem Handkontakt, über einen einhändigen zu einem zweihändigen Kontakt.
Im Chi Sao-Spiel verfolgen die beiden Leute ihre Absicht, den anderen zu kontrollieren. Sie erwarten, daß ihr Trainingspartner einen Fehler macht; ist der Fehler einmal gemacht, identifiziert und korrekt beantwortet, dann wird die Person diejenige, die Fan Sao benutzt: die kontinuierlichen gleichzeitigen Angriffs- und Kontrolltechniken.
Die Formen verändern sich nicht, sie entwickeln nur ein tieferes Verständnis und einen anderen Weg der Bewusstwerdung der gleichen Bewegungen durch die Anwendung der Konzepte und Prinzipien innerhalb der Formen.
Chi Sao ist frei von jeder Art der Restriktion, jede Trainingseinheit ist anders. In der frühen Stufe der Entwicklung der korrekten Position, Struktur, Energie und Bewegung, ebenso wie in Dan Chi Sao, Lap Sao und Poon Sao wird die Praxis die gleiche bleiben, einmal wird die Übung fortschreiten, auch wenn die Bewegungen gleich aussehen, das Gefühl und die gelernten Antworten, die entwickelt wurden, sind anders.
Chi Sao ist kein Kämpfen, es ist nicht dafür gedacht, einen Gewinner oder Verlierer hervorzubringen, weder geht es um Punkte machen oder deinen Gegner auszuknocken oder darüber besorgt zu sein, wer es nun geschafft hat.
Chi Sao ist eine gegenseitige nützliche Praxis, die Dich lehrt, was in bestimmten Situationen geschieht und macht dir bewußt, was geschieht, wenn Du im Kontakt mit einem Gegner bist. Chi Sao bereitet uns darauf vor, zu sparren oder zu kämpfen, aber für sich selbst ist es nicht die Antwort darauf.
Die Hauptmerkmale von Chi Sao sind gute Handpositionen, Techniken und die Entwicklung der Sensitivität und gelernten Antworten, die wie ein Reflex funktionieren.
Wenn die Basics (die Grundtechniken) falsch sind, wirst Du keine gute Deckung gegen die verschiedensten Angriffe haben, die eigene Verteidigung ist dann schlecht.
Die Basics geben dir das Wissen, Dich selbst zu verstehen. Hier bist Du und Du weißt, wie zu reagieren in sich verändernden Umständen. Dies ist die Grundlage für Chi Sao.
Wenn zwei Leute mit der einzigen Intention Chi Sao praktizieren, sich gegenseitig auszuknocken, dann wurde der gesamte Zweck von Chi Sao verfehlt. Chi Sao muß ein gegenseitiger Lernprozeß zweier Leute sein, die sich gegenseitig vertrauen, nicht einen Vorteil aus irgendeiner verletzlichen Position zu ziehen, damit beide selbst in Erfahrung bringen, wie man einen Kampf in einer solch engen Distanz austrägt.
Chi Sao ist nur ein Instrument in der Entwicklung des praktischen Gebrauchs guter Handtechniken aus den Formen, im Besonderen der drei Keime des Wing Chun: Tan Sao, Bong Sao und Fook Sao. Chi Sao ist das Hilfsmittel, um ein tieferes Verständnis für die grundlegenden Techniken zu fördern und lehrt Dich, Dich selbst zu lehren, Fehler wahrzunehmen und sie umgehend zu korrigieren.
Wie Du durch Chi Sao fortschreitest, werden fortgeschrittene Techniken, Konzepte und Prinzipien schrittweise in dein Repertoire eingeführt. In einem Kampf sind scharfe Reflexe für den Erfolg essentiell. Chi Sao trainiert nicht nur die Reflexe, gleichzeitig schult es die Sensitivität der Arme und fördert die eigene Körperstruktur. Hier gilt der Grundsatz: gute Haltung ist gute Energieleitfähigkeit..
Entspannung ist der Schlüssel zu schnellen Reflexen: auch wenn die Handtechniken korrekt sind, werden sie nutzlos, wenn die Arme angespannt sind.
Zu wissen, wann Du angespannt bist ist so einfach, wie das Fühlen der Muskelspannung offensichtlich ist. Sich über den Zustand der eigenen Entspannung bewusst zu sein ist sehr viel schwieriger, weil Du versuchst, „nichts“ zu fühlen.
Wing Chun fokussiert sich auf diesen Wechsel zwischen dem entspannten und angespannten Zustand in der zweiten Sektion der Siu Lim Tao, um zu verstehen, wie man Energien an und ausschaltet.
Einmal innerhalb der Form verstanden und auf den Rest des Systems ausgeweitet, kann die Wirkung der Energie durch Spannung, anfänglich in den letzten 3 cm einer Bewegung, später und später perfektioniert im Kontaktpunkt, in den Anwendungen erforscht werden.
Wenn man mit einem Schlag angreift, dann sollte der Arm entspannt sein bis zum letzten Moment und dann angespannt werden. Die Kraft (Energie) wird nur kurz angewendet, der größte Schaden entsteht beim Auftreffen, so dass es keinen Grund mehr gibt, mit der Anwendung von Energie fortzufahren, entweder nach dem Kontakt oder wenn das Ziel verfehlt wurde.
Wenn man eine Biu Gee benutzt, um sich gegen einen geraden Schlag zu verteidigen, muß sie schnell sein, um den Schlag zu stoppen, ist der Schlag einmal gestoppt, muß der verteidigende Arm wieder entspannt werden. Wenn der Angreifer fortfährt seine Energie mit Vorwärtsdruck auszuüben, kann seine Energie genutzt und umgelenkt werden.
Auch wenn die Position einer Technik korrekt ist, wird die Technik ineffektiv sein, wenn die Energie nicht in der richtigen Weise angewendet wird.
Wenn dein Gegner Tan Sao benutzt, er aber danach seinen Vorwärtsdruck beibehält, dann wird er unfähig sein, sich gegen eine Lap Sao zu verteidigen. Wenn er jedoch eine gute Sensitivität besitzt und den korrekten Gebrauch der Energie erlernt hat, dann wird er fähig sein, durch ein Lösen der Spannung nach der Technik die Veränderung in der Situation zu erkennen und dementsprechend reagieren.
Ein einfacher Trainingsdrill, der hilft, diesen Prozess des An- und Ausschaltens zu isolieren und weiter zu entwickeln ist eng vor dem Partner zu stehen, der eine führt einen Schlag aus und der andere blockt diesen Schlag mit Biu Sao mit Betonung der Spannung beim Kontakt und mit der folgenden Entspannung. Durch das Verständnis des Kontaktpunktes, der korrekte Gebrauch der Spannung und dem Erlernen, wie man effizient in der Anwendung der Muskelspannung ist, ist es möglich, die Periode, in der Du Chi Sao praktizieren kannst, zu verlängern oder in einem Kampf zu bestehen ohne erschöpft zu sein.
Die Spezialität von Wing Chun ist das Kämpfen in der Nahdistanz, die die gleiche Distanz im Chi Sao-Training ist. Durch Praktizieren von Chi Sao in dieser Distanz entwickelt es ein gutes Verständnis von Kampfdistanzen und -Positionen.
Zu lernen, sich in dieser Nähe wohl zu fühlen, erlaubt Dir, Techniken mit Wissen und Verstand anzuwenden, eine Sicherheit in einer Distanz zu entwickeln, in der die meisten Kämpfer wenig Erfahrungen haben mit Schlägen ohne Zurückziehen oder Ausweichen.
Ein enger Infight benötigt ein hohes Niveau der Fähigkeit, Energie auf einer so kurzen Distanz anzuwenden.
In Wing Chun wird diese Fähigkeit in zwei Wegen entwickelt. Der erste ist aus der zweiten Sektion der Siu Lim Tao, sie beschäftigt sich mit der spezifischen Entwicklung von Freisetzung von Energie in Nahdistanz.
Anfänglich wird den Schüler*innen vermittelt, die Energie innerhalb der letzten 3 – 5 cm einer Bewegung zu generieren, was später zu der Fähigkeit führt, nur bei Kontakt voll zu schlagen.
Die Nahkampfkonzepte und Prinzipien werden ausgedehnt in Biu Gee; Techniken wie Man Sao, Biu Gee, Biu Sao und Cup Jarn. Das Bewußtsein für die praktische Anwendung dieser Techniken wird durch Chi Sao weiter entwickelt.
Wenn es bis zu einem anständigen Level praktiziert wird, wird Chi Sao ein kontinuierlicher Trainingsprozeß.
Ist einmal die beidhändige Stufe erreicht und gemeistert, und nachdem die Einstiegstechniken verstanden wurden, kann jede Seite den anderen wegschieben, um den Kontakt zu beenden und zur Nicht-Kontakt-Stufe zurückkehren.
Oder eine Seite wiederholt die Einstiegssequenz durch Vorwärtsgehen und Angreifen, um die Kontrolle wiederzuerlangen und Faan Sao-Techniken anzuwenden, damit fortwährende Kontrolle und Angriff beibehalten werden.
Wenn Du Chi Sao in „Sektionen“ oder in festgefahrenen Abfolgen lernst oder glaubst, Du lernst eine Wing Chun-Technik, um einen einzelnen speziellen Angriff abzuwehren, dann lernst Du „totes Kung Fu“.
Chi Sao ist die „Seele“ des Wing Chun, dies macht Wing Chun erst zu einer effektiven und praktischen Kampfkunst!
Sifu Horst Drescher